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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Aus dem Elsaß

Mädchen Schritt für Schritt seinen? Falle entgegenführt, erhöht nur das Ge¬
fühl des Unbehagens. Bis zur Krisis hinauf bietet kein großer Zug diesem
Gemälde von Bosheit und Schwäche in unsrer Seele ein Gegengewicht, und
der Fall selber, der uns mit seltner Verwegenheit bis hart an die Grenze des
Erträglichen vor Angen tritt, geht nicht hervor ans einem innern .Konflikte
oder dem Überwallen einer mächtigen Leidenschaft, sondern aus einem Anfall
von Schwäche, einer nugeublicklichen seelischen Verwirrung, die erst durch das
gewiß im Leben nicht selten angewandte, aber poetisch bedenkliche Mittel alko¬
holischer Erregung ermöglicht wird. Mit dieser Darstellung des kleinen Elends
steht d' Jumpfer Prinzesse hinter der Lucie sogar entschieden zurück: denn diese
hat doch wenigstens in der sozialen Notlage, die das Schicksal des unglück¬
seligen Mädchens bestimmt, einen bedeutenden Hintergrund, und wir empfinden
darin eine allgemeine Macht, die unsre sittlichen .Kräfte zum Widerstande auf¬
ruft; hier aber wird das Peinliche durch das Kleinliche verstärkt. Jedoch die
Handlung findet einen versöhnenden Abschluß, und das söhnt uns mich mit
dem Dichter ans, der uns im Anfang hartnäckig in einen Naturalismus bannen
zu wollen schien, der gegenwärtig schon als überwundnes Stadium gelten muß.
Die Selbsterkenntnis und mehr noch die Selbstüberwindung, mit der das
schwergeprüfte Mädchen die Folgen seines Fehltritts zu tragen sich entschließt,
offenbart einen Zug von schlichter Größe, an dem das Gemüt sich wieder auf¬
richtet, und die Gestalt des jungen Schlossers, des verschmähten Liebhabers,
der ihr jetzt trotz ihrer befleckten Vergangenheit treuherzig die Hand entgegen¬
streckt, ist von einer so echten, reinen Glut durchströmt, daß sie auch uns zu
erwärmen vermag. Dazu gestattet die gemächlichere Breite, in der sich die
Handlung unbeschadet ihrer dramatischen Beweglichkeit über drei Akte verteilt,
gewisse Ruhepunkte, an denen der Dichter mit glücklichem Takte seine wirklich
volkstümliche Komik entfaltet und die befangne Seele wieder fröhlich aufatmen
macht.

Eben diese Freudigkeit der Seele, die frohe Zuversicht, die sich aus allen
Nöten und Mühseligkeiten des Lebens aufwärts ringt, den festen Mut in
schweren Leiden, nicht aber bloß das Leiden selbst, mit seiner reichen Kunst
der Menge darzubieten, möge immer mehr das klare Streben unsers Dichters
werden! So verspricht er ein Volksdichter im besten Sinne des Worts zU
werden. Wenn aber Begabung und innerer Drang ihn über die Schranken
der Volksbühne auf das große Theater weisen, so soll auch dieses Streben dem
Unternehmen, das er ins Leben gerufen hat, zu gute kommen. Denn indem
es ins Weite deutet, hat es für dieses die große und für seine Zukunft ent¬
scheidende Bedeutung einer Befreiung aus landschaftlicher Gebundenheit. Immer
wird das Landschaftliche ein Lebenselement des Volksstücks und insbesondre
des Dialektstücks bleiben; aber echte Kunst trachtet und weiß sich auch hier des
allgemein Menschlichen zu bemüchtigcu, wie in den bessern Volksdramen des
ehemaligen Gärtnertheaters und auch der Schlierseer, und auf diesem beruht
im Grunde doch die bleibende Wirkung, die des Landschaftlichen nur bedarf,
um den allgemeinen Gehalt des Kunstwerks der sinnlichen Anschauung näher


Aus dem Elsaß

Mädchen Schritt für Schritt seinen? Falle entgegenführt, erhöht nur das Ge¬
fühl des Unbehagens. Bis zur Krisis hinauf bietet kein großer Zug diesem
Gemälde von Bosheit und Schwäche in unsrer Seele ein Gegengewicht, und
der Fall selber, der uns mit seltner Verwegenheit bis hart an die Grenze des
Erträglichen vor Angen tritt, geht nicht hervor ans einem innern .Konflikte
oder dem Überwallen einer mächtigen Leidenschaft, sondern aus einem Anfall
von Schwäche, einer nugeublicklichen seelischen Verwirrung, die erst durch das
gewiß im Leben nicht selten angewandte, aber poetisch bedenkliche Mittel alko¬
holischer Erregung ermöglicht wird. Mit dieser Darstellung des kleinen Elends
steht d' Jumpfer Prinzesse hinter der Lucie sogar entschieden zurück: denn diese
hat doch wenigstens in der sozialen Notlage, die das Schicksal des unglück¬
seligen Mädchens bestimmt, einen bedeutenden Hintergrund, und wir empfinden
darin eine allgemeine Macht, die unsre sittlichen .Kräfte zum Widerstande auf¬
ruft; hier aber wird das Peinliche durch das Kleinliche verstärkt. Jedoch die
Handlung findet einen versöhnenden Abschluß, und das söhnt uns mich mit
dem Dichter ans, der uns im Anfang hartnäckig in einen Naturalismus bannen
zu wollen schien, der gegenwärtig schon als überwundnes Stadium gelten muß.
Die Selbsterkenntnis und mehr noch die Selbstüberwindung, mit der das
schwergeprüfte Mädchen die Folgen seines Fehltritts zu tragen sich entschließt,
offenbart einen Zug von schlichter Größe, an dem das Gemüt sich wieder auf¬
richtet, und die Gestalt des jungen Schlossers, des verschmähten Liebhabers,
der ihr jetzt trotz ihrer befleckten Vergangenheit treuherzig die Hand entgegen¬
streckt, ist von einer so echten, reinen Glut durchströmt, daß sie auch uns zu
erwärmen vermag. Dazu gestattet die gemächlichere Breite, in der sich die
Handlung unbeschadet ihrer dramatischen Beweglichkeit über drei Akte verteilt,
gewisse Ruhepunkte, an denen der Dichter mit glücklichem Takte seine wirklich
volkstümliche Komik entfaltet und die befangne Seele wieder fröhlich aufatmen
macht.

Eben diese Freudigkeit der Seele, die frohe Zuversicht, die sich aus allen
Nöten und Mühseligkeiten des Lebens aufwärts ringt, den festen Mut in
schweren Leiden, nicht aber bloß das Leiden selbst, mit seiner reichen Kunst
der Menge darzubieten, möge immer mehr das klare Streben unsers Dichters
werden! So verspricht er ein Volksdichter im besten Sinne des Worts zU
werden. Wenn aber Begabung und innerer Drang ihn über die Schranken
der Volksbühne auf das große Theater weisen, so soll auch dieses Streben dem
Unternehmen, das er ins Leben gerufen hat, zu gute kommen. Denn indem
es ins Weite deutet, hat es für dieses die große und für seine Zukunft ent¬
scheidende Bedeutung einer Befreiung aus landschaftlicher Gebundenheit. Immer
wird das Landschaftliche ein Lebenselement des Volksstücks und insbesondre
des Dialektstücks bleiben; aber echte Kunst trachtet und weiß sich auch hier des
allgemein Menschlichen zu bemüchtigcu, wie in den bessern Volksdramen des
ehemaligen Gärtnertheaters und auch der Schlierseer, und auf diesem beruht
im Grunde doch die bleibende Wirkung, die des Landschaftlichen nur bedarf,
um den allgemeinen Gehalt des Kunstwerks der sinnlichen Anschauung näher


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[0642] Aus dem Elsaß Mädchen Schritt für Schritt seinen? Falle entgegenführt, erhöht nur das Ge¬ fühl des Unbehagens. Bis zur Krisis hinauf bietet kein großer Zug diesem Gemälde von Bosheit und Schwäche in unsrer Seele ein Gegengewicht, und der Fall selber, der uns mit seltner Verwegenheit bis hart an die Grenze des Erträglichen vor Angen tritt, geht nicht hervor ans einem innern .Konflikte oder dem Überwallen einer mächtigen Leidenschaft, sondern aus einem Anfall von Schwäche, einer nugeublicklichen seelischen Verwirrung, die erst durch das gewiß im Leben nicht selten angewandte, aber poetisch bedenkliche Mittel alko¬ holischer Erregung ermöglicht wird. Mit dieser Darstellung des kleinen Elends steht d' Jumpfer Prinzesse hinter der Lucie sogar entschieden zurück: denn diese hat doch wenigstens in der sozialen Notlage, die das Schicksal des unglück¬ seligen Mädchens bestimmt, einen bedeutenden Hintergrund, und wir empfinden darin eine allgemeine Macht, die unsre sittlichen .Kräfte zum Widerstande auf¬ ruft; hier aber wird das Peinliche durch das Kleinliche verstärkt. Jedoch die Handlung findet einen versöhnenden Abschluß, und das söhnt uns mich mit dem Dichter ans, der uns im Anfang hartnäckig in einen Naturalismus bannen zu wollen schien, der gegenwärtig schon als überwundnes Stadium gelten muß. Die Selbsterkenntnis und mehr noch die Selbstüberwindung, mit der das schwergeprüfte Mädchen die Folgen seines Fehltritts zu tragen sich entschließt, offenbart einen Zug von schlichter Größe, an dem das Gemüt sich wieder auf¬ richtet, und die Gestalt des jungen Schlossers, des verschmähten Liebhabers, der ihr jetzt trotz ihrer befleckten Vergangenheit treuherzig die Hand entgegen¬ streckt, ist von einer so echten, reinen Glut durchströmt, daß sie auch uns zu erwärmen vermag. Dazu gestattet die gemächlichere Breite, in der sich die Handlung unbeschadet ihrer dramatischen Beweglichkeit über drei Akte verteilt, gewisse Ruhepunkte, an denen der Dichter mit glücklichem Takte seine wirklich volkstümliche Komik entfaltet und die befangne Seele wieder fröhlich aufatmen macht. Eben diese Freudigkeit der Seele, die frohe Zuversicht, die sich aus allen Nöten und Mühseligkeiten des Lebens aufwärts ringt, den festen Mut in schweren Leiden, nicht aber bloß das Leiden selbst, mit seiner reichen Kunst der Menge darzubieten, möge immer mehr das klare Streben unsers Dichters werden! So verspricht er ein Volksdichter im besten Sinne des Worts zU werden. Wenn aber Begabung und innerer Drang ihn über die Schranken der Volksbühne auf das große Theater weisen, so soll auch dieses Streben dem Unternehmen, das er ins Leben gerufen hat, zu gute kommen. Denn indem es ins Weite deutet, hat es für dieses die große und für seine Zukunft ent¬ scheidende Bedeutung einer Befreiung aus landschaftlicher Gebundenheit. Immer wird das Landschaftliche ein Lebenselement des Volksstücks und insbesondre des Dialektstücks bleiben; aber echte Kunst trachtet und weiß sich auch hier des allgemein Menschlichen zu bemüchtigcu, wie in den bessern Volksdramen des ehemaligen Gärtnertheaters und auch der Schlierseer, und auf diesem beruht im Grunde doch die bleibende Wirkung, die des Landschaftlichen nur bedarf, um den allgemeinen Gehalt des Kunstwerks der sinnlichen Anschauung näher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/642>, abgerufen am 04.07.2024.