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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Englische Meinungsmache

ist, pflegt das Volksempfinden ganz ebenso schnell und sicher zu urteilen wie
der Einzelmcnsch. Um so unheimlicher erscheint die Macht, mit der die
zweifelnden Stimmen in England zum Schweigen gebracht worden sind: Wie
kann es Unrecht sein, den Widerstand eines angeblich verrotteten Staatswesens
zu brechen, um es mit den Segnungen englischer Bildung zu beglücken? Der
Trugschluß, der diesem Satze zu Grunde liegt, wird in England nicht mehr
empfunden! Ist es aber mit dem sittlichen Empfinden zu Ende, so pflegt das
logische Denken eines Volks die Lage erst recht nicht mehr zu retten. Gestern,
heute und für alle Zukunft gilt Goethes Meinung, "daß das Absurde eigentlich
die Welt erfülle." ' Die öffentliche Meinung in England ist dahin geführt
worden, zu glauben, der Krieg bezwecke, der Menschheit durch Englands un¬
eigennützige 5und die reichen Schätze gesitteter Freiheit zu bringen. Die ge-
schwornen Feinde dieser Freiheit sind die Buren; deshalb sind sie zu ver¬
nichten.

Losgelöst von der widerlichen Verbrämung dieses heuchlerischen Prahl-
welschs wäre die nackte Erklärung: "Es gilt unsrer Machterweiterung, unsrer
Sehnsucht nach Gold und Diamanten" selbst manchem Engländer willkommen
gewesen; und jeder, der einer schrankenlosen Vaterlandsliebe, einem unbeug¬
samen Willen zur Macht eine gewisse Anerkennung nicht versagen wird, würde
wenigstens den Mut begrüßt haben, der in einer solchen Erklärung immerhin
gelegen hätte. Gewiß wäre es kein sehr hohes sittliches Ziel gewesen, das
England auf seine Fahnen schrieb; aber es wäre doch wenigstens ehrlich ge¬
wesen. Aber nicht einmal dieser kleine Lichtblick in der ganzen traurigen Sache,
die den ehrlich Denkenden zur Verzweiflung an der Menschheit bringt, war uns
vergönnt! Erst wenn die Gefahr des Mißerfolgs ganz verschwunden ist, dann
werden wir ohne Zweifel neben den Heldengesüngen auf britische Löwen auch
das nüchterne Eingeständnis zu hören und zu lesen bekommen: Es galt ja
nur Gold, Macht und Ruhm, die uns antrieben, das übrige war Gerede;
jetzt, nach vollendeter Thatsache, darf mans ja sagen.

So steht es mit der öffentlichen Meinung in England.

Grundverschieden verhält sich die übrige Welt: was Wunder, daß man
bestrebt ist, auch sie von der englischen Anschauung von der Gerechtigkeit der
britischen Sache zu überzeugen? Freilich spielt auch hier die Heuchelei eine
gewaltige Rolle. Scheinbar ist dem Engländer die Ansicht der ganzen Welt
gleichgiltig. Wer es nnr glaubte! Große Menschen mit edeln sittlichen Zielen
Pflegen im weiten Vorwärtsschauen gegen die Urteile einer verständnislos ver¬
dammenden Menge gleichgiltig zu sein; nicht aber kleine und große Missethäter:
nervös und ängstlich achten sie in den Pausen, wo das Geschrei auf der Gasse
verstummt, auf'die Meinung der Andern, nicht, um sich danach zurichten, um
sich zu bessern, sondern weil sie müssen. So auch ganze Völker, so auch Eng¬
land, das diesen Krieg gegen ein tapferes, sein Vaterland bis zum letzten
Blutstropfen verteidigendes Volk auf dem Gewissen hat. Und dieses Gewissen
schweigt nicht. England lauscht nervös ans die Meinung der Welt, ob es will
odernicht.


Englische Meinungsmache

ist, pflegt das Volksempfinden ganz ebenso schnell und sicher zu urteilen wie
der Einzelmcnsch. Um so unheimlicher erscheint die Macht, mit der die
zweifelnden Stimmen in England zum Schweigen gebracht worden sind: Wie
kann es Unrecht sein, den Widerstand eines angeblich verrotteten Staatswesens
zu brechen, um es mit den Segnungen englischer Bildung zu beglücken? Der
Trugschluß, der diesem Satze zu Grunde liegt, wird in England nicht mehr
empfunden! Ist es aber mit dem sittlichen Empfinden zu Ende, so pflegt das
logische Denken eines Volks die Lage erst recht nicht mehr zu retten. Gestern,
heute und für alle Zukunft gilt Goethes Meinung, „daß das Absurde eigentlich
die Welt erfülle." ' Die öffentliche Meinung in England ist dahin geführt
worden, zu glauben, der Krieg bezwecke, der Menschheit durch Englands un¬
eigennützige 5und die reichen Schätze gesitteter Freiheit zu bringen. Die ge-
schwornen Feinde dieser Freiheit sind die Buren; deshalb sind sie zu ver¬
nichten.

Losgelöst von der widerlichen Verbrämung dieses heuchlerischen Prahl-
welschs wäre die nackte Erklärung: „Es gilt unsrer Machterweiterung, unsrer
Sehnsucht nach Gold und Diamanten" selbst manchem Engländer willkommen
gewesen; und jeder, der einer schrankenlosen Vaterlandsliebe, einem unbeug¬
samen Willen zur Macht eine gewisse Anerkennung nicht versagen wird, würde
wenigstens den Mut begrüßt haben, der in einer solchen Erklärung immerhin
gelegen hätte. Gewiß wäre es kein sehr hohes sittliches Ziel gewesen, das
England auf seine Fahnen schrieb; aber es wäre doch wenigstens ehrlich ge¬
wesen. Aber nicht einmal dieser kleine Lichtblick in der ganzen traurigen Sache,
die den ehrlich Denkenden zur Verzweiflung an der Menschheit bringt, war uns
vergönnt! Erst wenn die Gefahr des Mißerfolgs ganz verschwunden ist, dann
werden wir ohne Zweifel neben den Heldengesüngen auf britische Löwen auch
das nüchterne Eingeständnis zu hören und zu lesen bekommen: Es galt ja
nur Gold, Macht und Ruhm, die uns antrieben, das übrige war Gerede;
jetzt, nach vollendeter Thatsache, darf mans ja sagen.

So steht es mit der öffentlichen Meinung in England.

Grundverschieden verhält sich die übrige Welt: was Wunder, daß man
bestrebt ist, auch sie von der englischen Anschauung von der Gerechtigkeit der
britischen Sache zu überzeugen? Freilich spielt auch hier die Heuchelei eine
gewaltige Rolle. Scheinbar ist dem Engländer die Ansicht der ganzen Welt
gleichgiltig. Wer es nnr glaubte! Große Menschen mit edeln sittlichen Zielen
Pflegen im weiten Vorwärtsschauen gegen die Urteile einer verständnislos ver¬
dammenden Menge gleichgiltig zu sein; nicht aber kleine und große Missethäter:
nervös und ängstlich achten sie in den Pausen, wo das Geschrei auf der Gasse
verstummt, auf'die Meinung der Andern, nicht, um sich danach zurichten, um
sich zu bessern, sondern weil sie müssen. So auch ganze Völker, so auch Eng¬
land, das diesen Krieg gegen ein tapferes, sein Vaterland bis zum letzten
Blutstropfen verteidigendes Volk auf dem Gewissen hat. Und dieses Gewissen
schweigt nicht. England lauscht nervös ans die Meinung der Welt, ob es will
odernicht.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/627>, abgerufen am 04.07.2024.