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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Herbstbildor aus Italien

fuhren breite Freitreppen zum Eingangsthore ueben der Kirche; dort sollte am
nächsten Tage das feierliche Totenamt im Beisein der Behörden stattfinden.
Denkmäler erfüllen die Säulenhallen, den ganzen freien Mittelraum nehmen
die Kindergräber ein in Form langer Blumenbeete, auf denen Chrysanthemum
in allen Farben blühte, aber nur selten ein kleines Kreuz stand, und im
Mittelpunkt erhebt sich die Kolossalstatue der Religion aus weißem Marmor.
Eine wogende Menschenmenge erfüllte auch diese Gange und Hallen, aber
wirklich Trauernde waren selten zu sehen, so an einem der Blumenbeete eine
arme Mutter in tiefem Schwarz, die weinend vor dem Grabe ihres Kindes
saß, unbekümmert um das Gewirr um sie her.

Durch das der Kirche gegenüber liegende Thor gelangt man auf einen
weiten Platz unmittelbar vor dem hintern Haupteingange. Auch er wogte von
Menschen, und auch hier war, wie vor dem südlichen Haupteingange, ein an¬
sehnliches Polizeiaufgebot entfaltet, städtische Schutzmannschaften in langen
schwarzen Röcken mit Filzhelmen, königliche Carabinieri und Guardia civile,
aber sie schienen durch ihre bloße Anwesenheit zu genügen. Vom Gitterthor
führt dann eine breite Straße nach der Stadt hinab, vorüber an dem erst 1888
angelegten Armenfriedhofe, dem Cimitero della Pieta. Dort hineinzukommen
war ganz unmöglich, denn ein dichter dunkler Menschenstrom erfüllte alle
Gänge. So wanderten wir die Straße nach dem Reclusorio, dem großen
Armenhause, hinein. Nur langsam ebbte der Menschenstrom, der sich auch
hierhin ergoß, indem er sich größtenteils in die zahlreichen Osterien am Wege
verlor. Dort saßen die Besucher der Friedhöfe, Männer, Frauen und Kinder,
dichtgedrängt um einfache Tische hinter ihrer Flasche Landwein, schwatzend und
seelenvergnügt, während die untergehende Sonne alles rot bestrahlte. Tod¬
müde erreichten wir endlich den Endpunkt der Pferdebahn jenseits des Reclu¬
sorio, eines mächtigen roten Vierecks. Aber sobald sich ein Wagen aus der
Stadt der Station näherte, wurde er von den Harrenden erstürmt und besetzt,
sodaß wir uns endlich zu demselben Manöver entschlossen. I^ihn?".! sagt
in solchen Fällen der Italiener, und "Geduld" galt es in der That hier zu
üben, doch dieses Wort hilft über vieles hinweg. Bis auf die Trittbretter be¬
laden setzte sich endlich unser Wagen in Bewegung, und sobald irgend jemand
abstieg, war sein Platz sofort wieder besetzt. Umsonst bemühte sich der Schaffner,
die Leute von den Trittbrettern zu entfernen, und ließ einmal halten, um sie
zum Absteigen zu zwingen, rief sogar polizeiliche Hilfe an. Das half indes
nur ganz vorübergehend und führte sogar zu einem hitzigen Wortwechsel
zwischen einigen Herren im hintern Teile des Wagens, der von Thätlichkeiten
nicht mehr weit entfernt war. Zwei junge Frauen mit zwei Kindern, die
ganz in unsrer Nähe saßen, sahen mit einiger Angst nach ihren erzürnten
Männern, endlich übergab die eine kurz entschlossen ihr Bcnnbino der andern
und begab sich zu ihrem Herrn Gemahl, der sich nun zu beruhigen schien. Die
andre aber, jetzt mit der Aufsicht über zwei schon weinende Bandini belastet,
sah mit großen, offnen, entsetzten Augen immer nach dem heißblütigen Gatten


Herbstbildor aus Italien

fuhren breite Freitreppen zum Eingangsthore ueben der Kirche; dort sollte am
nächsten Tage das feierliche Totenamt im Beisein der Behörden stattfinden.
Denkmäler erfüllen die Säulenhallen, den ganzen freien Mittelraum nehmen
die Kindergräber ein in Form langer Blumenbeete, auf denen Chrysanthemum
in allen Farben blühte, aber nur selten ein kleines Kreuz stand, und im
Mittelpunkt erhebt sich die Kolossalstatue der Religion aus weißem Marmor.
Eine wogende Menschenmenge erfüllte auch diese Gange und Hallen, aber
wirklich Trauernde waren selten zu sehen, so an einem der Blumenbeete eine
arme Mutter in tiefem Schwarz, die weinend vor dem Grabe ihres Kindes
saß, unbekümmert um das Gewirr um sie her.

Durch das der Kirche gegenüber liegende Thor gelangt man auf einen
weiten Platz unmittelbar vor dem hintern Haupteingange. Auch er wogte von
Menschen, und auch hier war, wie vor dem südlichen Haupteingange, ein an¬
sehnliches Polizeiaufgebot entfaltet, städtische Schutzmannschaften in langen
schwarzen Röcken mit Filzhelmen, königliche Carabinieri und Guardia civile,
aber sie schienen durch ihre bloße Anwesenheit zu genügen. Vom Gitterthor
führt dann eine breite Straße nach der Stadt hinab, vorüber an dem erst 1888
angelegten Armenfriedhofe, dem Cimitero della Pieta. Dort hineinzukommen
war ganz unmöglich, denn ein dichter dunkler Menschenstrom erfüllte alle
Gänge. So wanderten wir die Straße nach dem Reclusorio, dem großen
Armenhause, hinein. Nur langsam ebbte der Menschenstrom, der sich auch
hierhin ergoß, indem er sich größtenteils in die zahlreichen Osterien am Wege
verlor. Dort saßen die Besucher der Friedhöfe, Männer, Frauen und Kinder,
dichtgedrängt um einfache Tische hinter ihrer Flasche Landwein, schwatzend und
seelenvergnügt, während die untergehende Sonne alles rot bestrahlte. Tod¬
müde erreichten wir endlich den Endpunkt der Pferdebahn jenseits des Reclu¬
sorio, eines mächtigen roten Vierecks. Aber sobald sich ein Wagen aus der
Stadt der Station näherte, wurde er von den Harrenden erstürmt und besetzt,
sodaß wir uns endlich zu demselben Manöver entschlossen. I^ihn?».! sagt
in solchen Fällen der Italiener, und „Geduld" galt es in der That hier zu
üben, doch dieses Wort hilft über vieles hinweg. Bis auf die Trittbretter be¬
laden setzte sich endlich unser Wagen in Bewegung, und sobald irgend jemand
abstieg, war sein Platz sofort wieder besetzt. Umsonst bemühte sich der Schaffner,
die Leute von den Trittbrettern zu entfernen, und ließ einmal halten, um sie
zum Absteigen zu zwingen, rief sogar polizeiliche Hilfe an. Das half indes
nur ganz vorübergehend und führte sogar zu einem hitzigen Wortwechsel
zwischen einigen Herren im hintern Teile des Wagens, der von Thätlichkeiten
nicht mehr weit entfernt war. Zwei junge Frauen mit zwei Kindern, die
ganz in unsrer Nähe saßen, sahen mit einiger Angst nach ihren erzürnten
Männern, endlich übergab die eine kurz entschlossen ihr Bcnnbino der andern
und begab sich zu ihrem Herrn Gemahl, der sich nun zu beruhigen schien. Die
andre aber, jetzt mit der Aufsicht über zwei schon weinende Bandini belastet,
sah mit großen, offnen, entsetzten Augen immer nach dem heißblütigen Gatten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/614>, abgerufen am 04.07.2024.