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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Was ist der Traum?

hafte und wichtige Angelegenheit der Seele betrifft; es ist oft ein schlimmer,
oft ein bis in die Kindheit zurückgehender im Wachen immer unterdrückter
Wunsch. Dieser Wunsch tritt im Traume sust niemals unverhüllt hervor,
sondern wird mit den Lappen gleichgültiger Erinnerungen aus der jüngste"
Vergangenheit bekleidet. Der Trauminhalt ist deshalb meist unbedeutend,
lächerlich, absurd, kindisch, der Traumgedanke dagegen ist niemals unbedeutend,
niemals harmlos. Der Traum ist eine nützliche Funktion der Seele, weil er
gefährlichen Wünschen eine ungefährliche Befriedigung verschafft. Dus kriti¬
sierende und Aufsicht übende Organ gestattet diese Befriedigung im Schlaf,
weil da den Vorstellungen der Zugang zu den motorischen Nerven verschlossen
ist, eine schlimme That ihnen also uicht folgen kann. Weit entfernt davon,
daß der Traum ein Störer des Schlafs wäre, ist er vielmehr sein Wächter.
Wenn z. B. ein fauler Student in den Tag hineiuschläft und dabei träumt,
er sei in der Klinik, so thut er das, um daraus die unbewußte Folgerung zu
ziehn: Wenn ich schon dort bin, brauche ich uicht erst aufzustehn und hinzu¬
gehn und kann demnach weiter schlafe". Freud erzählt einen Traum, der seiner
Ansicht nach bloß durch den Wunsch, weiter zu schlafen, erzeugt ist, während
er zugleich einen audern, nicht schlimmen Wunsch unverhüllt erfüllt. Ein Vater
schläft, während die Leiche des geliebten Töchterchens, von brennenden Kerzen
umgeben, im Nebenzimmer liegt. Es träumt ihm, das Töchterchen trete n"
sei" Bett, zupfe ihn und sage: Ich brenne! und zeige ihm den verbrannten
Arm. Er erwacht, si"det die Wärterin eingeschlafen und das Kleid des Kindes
brennen, den einen Arm schon versengt. Offenbar war der Traum durch den
zur geöffneten Thür hereindringenden Feuerschein bewirkt, der um so kräftiger
wirken mußte, da der Mann mit der Besorgnis, die Wärterin könne einschlafen,
und die Kerzen könnten Unheil anrichten, entschlummert war. Das einfachste
wäre nun gewesen, das Aufflammen des brennenden Kleiderstoffs hätte ihn
sofort geweckt; aber der Wunsch, uoch ein wenig zu schlafen, erzeugte zusammen
mit dem Wunsche, die Verstorbne lebend zu sehe", zunächst die Halluzination
und verzögerte so das Erwachen einen Augenblick.

Die Wünsche erscheinen in Freuds Traumdeutungen manchmal ziemlich
gewaltsam mit den Traumbildern verknüpft. So wenn er zu einer Zeit, wo
er an einem Furunkel leidet, träumt, er sitze zu Pferde und reite flott und
fröhlich dahin; da bei der Lage des Furunkels, meint er, alles andre eher
möglich gewesen wäre als reiten, so bedeute der Traum die kräftigste Ver¬
neinung des schmerzhaften Geschwürs. Zugleich aber spricht doch auch gerade
dieser Traum für seine Theorie. Wäre die gewöhnliche Ansicht richtig, daß
man nicht im tiefen Schlaf, sondern nur im Halbschlaf träume, und daß alle
Träume von SinnesU'ahrnehmungen oder leiblichen Empfindungen herrühren,
so wäre el" solcher Traum unmöglich; der Furunkel würde dann die Vor¬
stellung eiuer Pei" erzeugende" Lage geschaffen haben. Aber ganze Gruppen
von Deutungen scheine" sehr anfechtbar, z. B. wenn er alle Angstträume aus
derhaltnen Begierden erklärt.


Grenzboten I 1900 69
Was ist der Traum?

hafte und wichtige Angelegenheit der Seele betrifft; es ist oft ein schlimmer,
oft ein bis in die Kindheit zurückgehender im Wachen immer unterdrückter
Wunsch. Dieser Wunsch tritt im Traume sust niemals unverhüllt hervor,
sondern wird mit den Lappen gleichgültiger Erinnerungen aus der jüngste»
Vergangenheit bekleidet. Der Trauminhalt ist deshalb meist unbedeutend,
lächerlich, absurd, kindisch, der Traumgedanke dagegen ist niemals unbedeutend,
niemals harmlos. Der Traum ist eine nützliche Funktion der Seele, weil er
gefährlichen Wünschen eine ungefährliche Befriedigung verschafft. Dus kriti¬
sierende und Aufsicht übende Organ gestattet diese Befriedigung im Schlaf,
weil da den Vorstellungen der Zugang zu den motorischen Nerven verschlossen
ist, eine schlimme That ihnen also uicht folgen kann. Weit entfernt davon,
daß der Traum ein Störer des Schlafs wäre, ist er vielmehr sein Wächter.
Wenn z. B. ein fauler Student in den Tag hineiuschläft und dabei träumt,
er sei in der Klinik, so thut er das, um daraus die unbewußte Folgerung zu
ziehn: Wenn ich schon dort bin, brauche ich uicht erst aufzustehn und hinzu¬
gehn und kann demnach weiter schlafe». Freud erzählt einen Traum, der seiner
Ansicht nach bloß durch den Wunsch, weiter zu schlafen, erzeugt ist, während
er zugleich einen audern, nicht schlimmen Wunsch unverhüllt erfüllt. Ein Vater
schläft, während die Leiche des geliebten Töchterchens, von brennenden Kerzen
umgeben, im Nebenzimmer liegt. Es träumt ihm, das Töchterchen trete n»
sei» Bett, zupfe ihn und sage: Ich brenne! und zeige ihm den verbrannten
Arm. Er erwacht, si»det die Wärterin eingeschlafen und das Kleid des Kindes
brennen, den einen Arm schon versengt. Offenbar war der Traum durch den
zur geöffneten Thür hereindringenden Feuerschein bewirkt, der um so kräftiger
wirken mußte, da der Mann mit der Besorgnis, die Wärterin könne einschlafen,
und die Kerzen könnten Unheil anrichten, entschlummert war. Das einfachste
wäre nun gewesen, das Aufflammen des brennenden Kleiderstoffs hätte ihn
sofort geweckt; aber der Wunsch, uoch ein wenig zu schlafen, erzeugte zusammen
mit dem Wunsche, die Verstorbne lebend zu sehe», zunächst die Halluzination
und verzögerte so das Erwachen einen Augenblick.

Die Wünsche erscheinen in Freuds Traumdeutungen manchmal ziemlich
gewaltsam mit den Traumbildern verknüpft. So wenn er zu einer Zeit, wo
er an einem Furunkel leidet, träumt, er sitze zu Pferde und reite flott und
fröhlich dahin; da bei der Lage des Furunkels, meint er, alles andre eher
möglich gewesen wäre als reiten, so bedeute der Traum die kräftigste Ver¬
neinung des schmerzhaften Geschwürs. Zugleich aber spricht doch auch gerade
dieser Traum für seine Theorie. Wäre die gewöhnliche Ansicht richtig, daß
man nicht im tiefen Schlaf, sondern nur im Halbschlaf träume, und daß alle
Träume von SinnesU'ahrnehmungen oder leiblichen Empfindungen herrühren,
so wäre el» solcher Traum unmöglich; der Furunkel würde dann die Vor¬
stellung eiuer Pei» erzeugende» Lage geschaffen haben. Aber ganze Gruppen
von Deutungen scheine« sehr anfechtbar, z. B. wenn er alle Angstträume aus
derhaltnen Begierden erklärt.


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[0553] Was ist der Traum? hafte und wichtige Angelegenheit der Seele betrifft; es ist oft ein schlimmer, oft ein bis in die Kindheit zurückgehender im Wachen immer unterdrückter Wunsch. Dieser Wunsch tritt im Traume sust niemals unverhüllt hervor, sondern wird mit den Lappen gleichgültiger Erinnerungen aus der jüngste» Vergangenheit bekleidet. Der Trauminhalt ist deshalb meist unbedeutend, lächerlich, absurd, kindisch, der Traumgedanke dagegen ist niemals unbedeutend, niemals harmlos. Der Traum ist eine nützliche Funktion der Seele, weil er gefährlichen Wünschen eine ungefährliche Befriedigung verschafft. Dus kriti¬ sierende und Aufsicht übende Organ gestattet diese Befriedigung im Schlaf, weil da den Vorstellungen der Zugang zu den motorischen Nerven verschlossen ist, eine schlimme That ihnen also uicht folgen kann. Weit entfernt davon, daß der Traum ein Störer des Schlafs wäre, ist er vielmehr sein Wächter. Wenn z. B. ein fauler Student in den Tag hineiuschläft und dabei träumt, er sei in der Klinik, so thut er das, um daraus die unbewußte Folgerung zu ziehn: Wenn ich schon dort bin, brauche ich uicht erst aufzustehn und hinzu¬ gehn und kann demnach weiter schlafe». Freud erzählt einen Traum, der seiner Ansicht nach bloß durch den Wunsch, weiter zu schlafen, erzeugt ist, während er zugleich einen audern, nicht schlimmen Wunsch unverhüllt erfüllt. Ein Vater schläft, während die Leiche des geliebten Töchterchens, von brennenden Kerzen umgeben, im Nebenzimmer liegt. Es träumt ihm, das Töchterchen trete n» sei» Bett, zupfe ihn und sage: Ich brenne! und zeige ihm den verbrannten Arm. Er erwacht, si»det die Wärterin eingeschlafen und das Kleid des Kindes brennen, den einen Arm schon versengt. Offenbar war der Traum durch den zur geöffneten Thür hereindringenden Feuerschein bewirkt, der um so kräftiger wirken mußte, da der Mann mit der Besorgnis, die Wärterin könne einschlafen, und die Kerzen könnten Unheil anrichten, entschlummert war. Das einfachste wäre nun gewesen, das Aufflammen des brennenden Kleiderstoffs hätte ihn sofort geweckt; aber der Wunsch, uoch ein wenig zu schlafen, erzeugte zusammen mit dem Wunsche, die Verstorbne lebend zu sehe», zunächst die Halluzination und verzögerte so das Erwachen einen Augenblick. Die Wünsche erscheinen in Freuds Traumdeutungen manchmal ziemlich gewaltsam mit den Traumbildern verknüpft. So wenn er zu einer Zeit, wo er an einem Furunkel leidet, träumt, er sitze zu Pferde und reite flott und fröhlich dahin; da bei der Lage des Furunkels, meint er, alles andre eher möglich gewesen wäre als reiten, so bedeute der Traum die kräftigste Ver¬ neinung des schmerzhaften Geschwürs. Zugleich aber spricht doch auch gerade dieser Traum für seine Theorie. Wäre die gewöhnliche Ansicht richtig, daß man nicht im tiefen Schlaf, sondern nur im Halbschlaf träume, und daß alle Träume von SinnesU'ahrnehmungen oder leiblichen Empfindungen herrühren, so wäre el» solcher Traum unmöglich; der Furunkel würde dann die Vor¬ stellung eiuer Pei» erzeugende» Lage geschaffen haben. Aber ganze Gruppen von Deutungen scheine« sehr anfechtbar, z. B. wenn er alle Angstträume aus derhaltnen Begierden erklärt. Grenzboten I 1900 69

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/553>, abgerufen am 02.10.2024.