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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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<Lin russischer Minister als Ncitionalökonom

einem Spaziergange im Park von Zarskoe Scio unwohl. Er ordnete seine
Angelegenheiten, benachrichtigte den Kaiser und das Ministerium und sagte
dann dem Arzte, der gerufen worden war: "Bemühen Sie sich nicht, ich fühle
das Ende nahe; ich fürchte den Tod nicht und bitte Gott nur, mich nicht
lange leiden zu lassen/' Nach drei Stunden war es überstanden. An den Ver¬
gnügungen der Se. Petersburger Gesellschaft hatte er nicht teilgenommen; seine
Erholung bestand in wissenschaftlichen Beschäftigungen und im Naturgenuß.
Die Beteiligung an Geldgeschäften verbot ihm seine Lauterkeit; um auch andern
keinen Vorwand zu Spekulationen zu geben, legte er sein bescheidnes Vermögen
nur in Staatsschüldscheinen an und kaufte niemals Jndustriepapiere, Einen
bedeutenden Teil seines Einkommens verwandte er auf Werke der Wohlthätig¬
keit; kein Bittender verließ ihn unerhört. Seine Wahrheitsliebe erlaubte ihm
nicht, auch nur den Schein einer Meinung, die er nicht hatte, aufkommen zu
lassen. Geriet er in einer Unterredung auf einen Punkt, über den er sich nicht
aussprechen durfte, so brach er ab und sagte gar nichts. Zur Ergänzung seines
politischen Charakterbildes mag noch bemerkt werden, daß er ein entschiedner
Gegner des ländlichen Gemeinbesitzes und gemäßigter Schutzzöllner war, den
in Rußland herrschenden Absolutismus als die geschichtlich gewordne und dein
Volkscharakter angemessene Regierungsform aufrecht erhalten, aber nicht will¬
kürlich, sondern streng gesetzlich ausgeübt wissen wollte, daß er endlich russischer
Patriot war, aber jede Vexation der andern Nationalitäten wegen ihrer Sprache
und Religion mißbilligte und für alle Bevölkerungsgruppen unbeschränkte
Freiheit im Privatleben forderte.

Bei dem Jubiläum der Universität Kiew ist ein Verzeichnis seiner Schriften
veröffentlicht worden, das fünfundfünfzig Nummern enthält. Seitdem hat
er noch vier Schriften herausgegeben, von denen das vorliegende Buch die
letzte ist. Es besteht aus vier, an Umfang sehr ungleichen Teilen. Die ersten
drei: der Abriß, der dem ganzen den Namen gegeben hat, eine Kritik Careys
und eine Kritik John Stuart Mills, waren schon früher erschienen und sind
für die neue Ausgabe umgearbeitet worden; der letzte kleine Aufsatz: "Menger
von Schmoller beurteilt," erscheint hier zum erstenmal und giebt den Haupt¬
inhalt der Abfuhr wieder, die Schmoller dem verbohrten Doktrinär Menger
hat angedeihen lassen. Das Vorwort zu dem Buche ist am 5. April 1895,
also zwei Monate vor seinem Tode geschrieben. Er spricht sich darin über
Theorien im allgemeinen aus. Falls seine Kräfte ausreichten, gedenke er
später seine Erfahrungen in einigen Zweigen der Verwaltung und Volkswirt¬
schaft zu veröffentlichen; hier beschränke er sich auf das theoretische Gebiet,
weil er in der Gedankenarbeit Erholung von den Staatsgeschäften finde. "Bei
dieser Arbeit rief ich mir das Bild meiner Zuhörer zurück, deren Andenken
mir teuer ist, rief ich mir mein vergangnes Gedankenleben zurück, erinnerte
ich mich daran, wie ich selbst jahrelang unter der Einwirkung der herrschende"
nationalökonomischen Lehren gestanden, mich aber davon befreit habe und zu
der Überzeugung gelangt bin, daß die wahre Wissenschaft nicht durch blinden


<Lin russischer Minister als Ncitionalökonom

einem Spaziergange im Park von Zarskoe Scio unwohl. Er ordnete seine
Angelegenheiten, benachrichtigte den Kaiser und das Ministerium und sagte
dann dem Arzte, der gerufen worden war: „Bemühen Sie sich nicht, ich fühle
das Ende nahe; ich fürchte den Tod nicht und bitte Gott nur, mich nicht
lange leiden zu lassen/' Nach drei Stunden war es überstanden. An den Ver¬
gnügungen der Se. Petersburger Gesellschaft hatte er nicht teilgenommen; seine
Erholung bestand in wissenschaftlichen Beschäftigungen und im Naturgenuß.
Die Beteiligung an Geldgeschäften verbot ihm seine Lauterkeit; um auch andern
keinen Vorwand zu Spekulationen zu geben, legte er sein bescheidnes Vermögen
nur in Staatsschüldscheinen an und kaufte niemals Jndustriepapiere, Einen
bedeutenden Teil seines Einkommens verwandte er auf Werke der Wohlthätig¬
keit; kein Bittender verließ ihn unerhört. Seine Wahrheitsliebe erlaubte ihm
nicht, auch nur den Schein einer Meinung, die er nicht hatte, aufkommen zu
lassen. Geriet er in einer Unterredung auf einen Punkt, über den er sich nicht
aussprechen durfte, so brach er ab und sagte gar nichts. Zur Ergänzung seines
politischen Charakterbildes mag noch bemerkt werden, daß er ein entschiedner
Gegner des ländlichen Gemeinbesitzes und gemäßigter Schutzzöllner war, den
in Rußland herrschenden Absolutismus als die geschichtlich gewordne und dein
Volkscharakter angemessene Regierungsform aufrecht erhalten, aber nicht will¬
kürlich, sondern streng gesetzlich ausgeübt wissen wollte, daß er endlich russischer
Patriot war, aber jede Vexation der andern Nationalitäten wegen ihrer Sprache
und Religion mißbilligte und für alle Bevölkerungsgruppen unbeschränkte
Freiheit im Privatleben forderte.

Bei dem Jubiläum der Universität Kiew ist ein Verzeichnis seiner Schriften
veröffentlicht worden, das fünfundfünfzig Nummern enthält. Seitdem hat
er noch vier Schriften herausgegeben, von denen das vorliegende Buch die
letzte ist. Es besteht aus vier, an Umfang sehr ungleichen Teilen. Die ersten
drei: der Abriß, der dem ganzen den Namen gegeben hat, eine Kritik Careys
und eine Kritik John Stuart Mills, waren schon früher erschienen und sind
für die neue Ausgabe umgearbeitet worden; der letzte kleine Aufsatz: „Menger
von Schmoller beurteilt," erscheint hier zum erstenmal und giebt den Haupt¬
inhalt der Abfuhr wieder, die Schmoller dem verbohrten Doktrinär Menger
hat angedeihen lassen. Das Vorwort zu dem Buche ist am 5. April 1895,
also zwei Monate vor seinem Tode geschrieben. Er spricht sich darin über
Theorien im allgemeinen aus. Falls seine Kräfte ausreichten, gedenke er
später seine Erfahrungen in einigen Zweigen der Verwaltung und Volkswirt¬
schaft zu veröffentlichen; hier beschränke er sich auf das theoretische Gebiet,
weil er in der Gedankenarbeit Erholung von den Staatsgeschäften finde. „Bei
dieser Arbeit rief ich mir das Bild meiner Zuhörer zurück, deren Andenken
mir teuer ist, rief ich mir mein vergangnes Gedankenleben zurück, erinnerte
ich mich daran, wie ich selbst jahrelang unter der Einwirkung der herrschende»
nationalökonomischen Lehren gestanden, mich aber davon befreit habe und zu
der Überzeugung gelangt bin, daß die wahre Wissenschaft nicht durch blinden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/344>, abgerufen am 04.07.2024.