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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Die deutsche ZVeltpolitik

Stand die Krisis überwinde. Einen glücklichen Ausweg aus dein Kampfe der
Interessen des bis dahin herrschenden Erwerbsstandes mit denen des modernen
zu finden, ist eine ungemein schwere Aufgabe. Es ist allerdings nicht zu ver¬
meiden, daß je höher die Kultur steigt, die Landwirtschaft in der Wertschätzung
der andern Stände sinkt. Denn die heimischen landwirtschaftlichen Produkte
werden, je höher die Lebensansprüche steigen, einen gegenüber andern Bedürf¬
nissen immer mehr fallenden Teil der Konsumtion ausmachen und besonders
von denen als ein notwendiges Übel betrachtet werden, denen das Ausland
den Lebensunterhalt liefert, und die sich darum der heimischen Landwirtschaft,
die kaum der Hälfte der deutscheu Bevölkerung Lohn und Brot geben kann,
nicht zu Dank verpflichtet fühlen können. Zudem werden die industriellen Ar¬
beiter mit Recht sagen, die Erhaltung der Arbeitsgelegenheit im Auslande sei
dringender als die Erhaltung der Rentabilität der Landwirtschaft, denn wenn
die Landwirte auch nichts verdienen, dann brauchen sie noch nicht zu hungern;
wenn den industriellen Arbeitern aber die Arbeitsgelegenheit entzogen wird,
dann müssen sie vielfach hungern, denn sie haben kein "Tischlein decke dich" im
Hanse wie die Landwirte.

Wie in der Getreideproduktivn, so kommt die Landwirtschaft auch in andern
Produkten, z. B. Wolle, Fleisch usw., mit den Wünschen der Industrie in
Kollision, da sie nicht imstande ist, die Bedürfnisse der Industrie an Lebens¬
mitteln und Rohstoffen zu befriedigen. Auch in dieser Hinsicht muß sich die
deutsche Landwirtschaft den neuen Wirtschaftsformen fügen und es dulden, daß
ihre Produkte infolge der Öffnung der Zollschranken billiger werden. Die
Lebensbedingungen des deutschen Volks verbieten es, daß dem einen oder dem
andern der beiden großen Erwerbsstände allein freie Bahn gegeben werde.
Jetzt ist Deutschland noch ein Gebiet von gleichmäßig gemischten Wirtschafts¬
formen, aber diese Mischung wird sich notwendigerweise immer mehr zu Gunsten
der Industrie verändern, je mehr die Bevölkerung wächst. Das muß deu Ge¬
sichtspunkt für die deutsche Wirtschaftspolitik geben. Bis sich aber Deutsch¬
land zum überwiegenden Industriestaat ausgebildet hat, kann die Zeit genutzt
werden, um die deutsche Landwirtschaft, die doch immer ein Bestandteil (von
etwa 30 Millionen Menschen) des deutschen Volks bleiben wird, ans ihrer
jetzt unhaltbaren, weil veralteten Form in die neue weltwirtschaftliche überzu¬
leiten. Ohne schmerzliche Erfahrungen und Entsagungen wird das für die
deutsche Landwirtschaft nicht abgehn, ebenso wenig, wie die Industrie im Kampf
ums Dasein ohne Wunden davon kommt. Wie viele Firmen werden z. B-
bankrott, wenn eine neue Erfindung in ihrer Branche ihre alten Maschinen
wertlos macht, oder wenn eine Konstellation auf dem Weltmarkte, z. B. em
Krieg, ihnen das Absatzgebiet nimmt!

Der Teil unsrer Landwirte, der gewöhnt ist, die Welt der Thatsachen
von einem liberalen vergleichenden Standpunkt ans zu betrachten, scheint sich
schon in die Dinge gefunden zu haben und strebt mit Unterstützung des Staats
hinüber in die neuen Formen. Es ist auch nicht autiuational, wenn ein Teil


Die deutsche ZVeltpolitik

Stand die Krisis überwinde. Einen glücklichen Ausweg aus dein Kampfe der
Interessen des bis dahin herrschenden Erwerbsstandes mit denen des modernen
zu finden, ist eine ungemein schwere Aufgabe. Es ist allerdings nicht zu ver¬
meiden, daß je höher die Kultur steigt, die Landwirtschaft in der Wertschätzung
der andern Stände sinkt. Denn die heimischen landwirtschaftlichen Produkte
werden, je höher die Lebensansprüche steigen, einen gegenüber andern Bedürf¬
nissen immer mehr fallenden Teil der Konsumtion ausmachen und besonders
von denen als ein notwendiges Übel betrachtet werden, denen das Ausland
den Lebensunterhalt liefert, und die sich darum der heimischen Landwirtschaft,
die kaum der Hälfte der deutscheu Bevölkerung Lohn und Brot geben kann,
nicht zu Dank verpflichtet fühlen können. Zudem werden die industriellen Ar¬
beiter mit Recht sagen, die Erhaltung der Arbeitsgelegenheit im Auslande sei
dringender als die Erhaltung der Rentabilität der Landwirtschaft, denn wenn
die Landwirte auch nichts verdienen, dann brauchen sie noch nicht zu hungern;
wenn den industriellen Arbeitern aber die Arbeitsgelegenheit entzogen wird,
dann müssen sie vielfach hungern, denn sie haben kein „Tischlein decke dich" im
Hanse wie die Landwirte.

Wie in der Getreideproduktivn, so kommt die Landwirtschaft auch in andern
Produkten, z. B. Wolle, Fleisch usw., mit den Wünschen der Industrie in
Kollision, da sie nicht imstande ist, die Bedürfnisse der Industrie an Lebens¬
mitteln und Rohstoffen zu befriedigen. Auch in dieser Hinsicht muß sich die
deutsche Landwirtschaft den neuen Wirtschaftsformen fügen und es dulden, daß
ihre Produkte infolge der Öffnung der Zollschranken billiger werden. Die
Lebensbedingungen des deutschen Volks verbieten es, daß dem einen oder dem
andern der beiden großen Erwerbsstände allein freie Bahn gegeben werde.
Jetzt ist Deutschland noch ein Gebiet von gleichmäßig gemischten Wirtschafts¬
formen, aber diese Mischung wird sich notwendigerweise immer mehr zu Gunsten
der Industrie verändern, je mehr die Bevölkerung wächst. Das muß deu Ge¬
sichtspunkt für die deutsche Wirtschaftspolitik geben. Bis sich aber Deutsch¬
land zum überwiegenden Industriestaat ausgebildet hat, kann die Zeit genutzt
werden, um die deutsche Landwirtschaft, die doch immer ein Bestandteil (von
etwa 30 Millionen Menschen) des deutschen Volks bleiben wird, ans ihrer
jetzt unhaltbaren, weil veralteten Form in die neue weltwirtschaftliche überzu¬
leiten. Ohne schmerzliche Erfahrungen und Entsagungen wird das für die
deutsche Landwirtschaft nicht abgehn, ebenso wenig, wie die Industrie im Kampf
ums Dasein ohne Wunden davon kommt. Wie viele Firmen werden z. B-
bankrott, wenn eine neue Erfindung in ihrer Branche ihre alten Maschinen
wertlos macht, oder wenn eine Konstellation auf dem Weltmarkte, z. B. em
Krieg, ihnen das Absatzgebiet nimmt!

Der Teil unsrer Landwirte, der gewöhnt ist, die Welt der Thatsachen
von einem liberalen vergleichenden Standpunkt ans zu betrachten, scheint sich
schon in die Dinge gefunden zu haben und strebt mit Unterstützung des Staats
hinüber in die neuen Formen. Es ist auch nicht autiuational, wenn ein Teil


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[0336] Die deutsche ZVeltpolitik Stand die Krisis überwinde. Einen glücklichen Ausweg aus dein Kampfe der Interessen des bis dahin herrschenden Erwerbsstandes mit denen des modernen zu finden, ist eine ungemein schwere Aufgabe. Es ist allerdings nicht zu ver¬ meiden, daß je höher die Kultur steigt, die Landwirtschaft in der Wertschätzung der andern Stände sinkt. Denn die heimischen landwirtschaftlichen Produkte werden, je höher die Lebensansprüche steigen, einen gegenüber andern Bedürf¬ nissen immer mehr fallenden Teil der Konsumtion ausmachen und besonders von denen als ein notwendiges Übel betrachtet werden, denen das Ausland den Lebensunterhalt liefert, und die sich darum der heimischen Landwirtschaft, die kaum der Hälfte der deutscheu Bevölkerung Lohn und Brot geben kann, nicht zu Dank verpflichtet fühlen können. Zudem werden die industriellen Ar¬ beiter mit Recht sagen, die Erhaltung der Arbeitsgelegenheit im Auslande sei dringender als die Erhaltung der Rentabilität der Landwirtschaft, denn wenn die Landwirte auch nichts verdienen, dann brauchen sie noch nicht zu hungern; wenn den industriellen Arbeitern aber die Arbeitsgelegenheit entzogen wird, dann müssen sie vielfach hungern, denn sie haben kein „Tischlein decke dich" im Hanse wie die Landwirte. Wie in der Getreideproduktivn, so kommt die Landwirtschaft auch in andern Produkten, z. B. Wolle, Fleisch usw., mit den Wünschen der Industrie in Kollision, da sie nicht imstande ist, die Bedürfnisse der Industrie an Lebens¬ mitteln und Rohstoffen zu befriedigen. Auch in dieser Hinsicht muß sich die deutsche Landwirtschaft den neuen Wirtschaftsformen fügen und es dulden, daß ihre Produkte infolge der Öffnung der Zollschranken billiger werden. Die Lebensbedingungen des deutschen Volks verbieten es, daß dem einen oder dem andern der beiden großen Erwerbsstände allein freie Bahn gegeben werde. Jetzt ist Deutschland noch ein Gebiet von gleichmäßig gemischten Wirtschafts¬ formen, aber diese Mischung wird sich notwendigerweise immer mehr zu Gunsten der Industrie verändern, je mehr die Bevölkerung wächst. Das muß deu Ge¬ sichtspunkt für die deutsche Wirtschaftspolitik geben. Bis sich aber Deutsch¬ land zum überwiegenden Industriestaat ausgebildet hat, kann die Zeit genutzt werden, um die deutsche Landwirtschaft, die doch immer ein Bestandteil (von etwa 30 Millionen Menschen) des deutschen Volks bleiben wird, ans ihrer jetzt unhaltbaren, weil veralteten Form in die neue weltwirtschaftliche überzu¬ leiten. Ohne schmerzliche Erfahrungen und Entsagungen wird das für die deutsche Landwirtschaft nicht abgehn, ebenso wenig, wie die Industrie im Kampf ums Dasein ohne Wunden davon kommt. Wie viele Firmen werden z. B- bankrott, wenn eine neue Erfindung in ihrer Branche ihre alten Maschinen wertlos macht, oder wenn eine Konstellation auf dem Weltmarkte, z. B. em Krieg, ihnen das Absatzgebiet nimmt! Der Teil unsrer Landwirte, der gewöhnt ist, die Welt der Thatsachen von einem liberalen vergleichenden Standpunkt ans zu betrachten, scheint sich schon in die Dinge gefunden zu haben und strebt mit Unterstützung des Staats hinüber in die neuen Formen. Es ist auch nicht autiuational, wenn ein Teil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/336>, abgerufen am 04.07.2024.