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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Böhmische Wirren

Kenntnis giebt, haben länger vorgehalten als für eine Spanne Zeit; anch
von den zu Gunsten Österreichs aufgesetzten Urkunden sind gar manche hin¬
fällig geworden. Welcher besondre Umstand sollte der tschechischen Bevölkerung
Böhmens einen von den Wandlungen des Staatslebens unabhängigen Rechts¬
titel und das außergewöhnliche Privilegium gewähren, auf einer Zergliederung
des Gesamtstaats zu bestehn, die für diesen verhängnisvoll sein würde und
deshalb von allen, die nicht durch Svnderinteressen geblendet sind, verabscheut
und verweigert wird?

Was versprechen sich die Tschechen von einem wiederhergestellten, rings
von nichtslawischen Ländern eingeschlossenen Königreich Böhmen? Glauben
sie, es werde sich auf irgend einem Gebiet selbst genügen können? Sogar die
leidenschaftlichsten Parteiführer getrauen sich nicht, das zu behaupten. Soll es
sich um Rußland als den Hort des Panslawismus anlehnen? Die österreichische
Regierung hat jede erdenkliche Ursache, einer solchen Eventualität vorzubeugen.
Beabsichtige" sie, die österreichische Verwaltung beiseite zu schieben und durch
tschechische Einrichtungen zu ersetzen? Auch das würde dem Interesse des
Gesamtstaats schnurstracks entgegenlaufen.

Man hört in tschechischen Kreisen oft ünßern, daß man sich selbständig
machen müsse, um der beabsichtigten Germanisierung Böhmens wirksamer ent¬
gegentreten zu können. Was hat es mit diesen Germanisiernngsversuchen für
eine Bewandtnis? Worum handelt es sich im Grunde bei dem Widerstande,
den die Deutsch-Österreicher der Slawisierung Böhmens entgegensetzen, und
worin ihnen, unsrer Meinung nach, die österreichische Regierung nicht bloß
zur Seite stehn, sondern vorangehn sollte?

Die Deutsch-Österreicher -- wenn wir hier von einigen Fanatikern absehen,
deren extreme Anschauungen wenig Beifall finden -- wollen weder die Tschechen
noch deren Sprache und Kultur verdrängen: sie wollen nur nicht selbst von
ihnen verdrängt werden, und der Wirkungskreis der Negierungsorgane wie
das Gebiet der Staatssprache soll von den Tschechen nicht beeinträchtigt und
beschränkt werden. Daß diese Zurückdrängung des Deutsch-Österreichertnms in
der That beabsichtigt wird, davon legen vielfältige in öffentlichen Versamm
lungen gethane Äußerungen Zeugnis ab, und das beweist die Haltung der
städtischen Behörden, in denen die tschechische Majorität nach ihrem Gutdünken
handeln kann.

Zu Angelpunkten feindschaftlicher politischer Rivalität sind die nationalen
Gegensätze zwischen Deutsch-Österreichern und Tschechen recht eigentlich erst
durch die in Paris arbeitende und ganz unter französischem Einfluß stehende
kosmopolitische Presse gemacht worden. Wer sich über den Ursprung der neuen
revolutionären Bewegungen in den verschiedensten Staaten Europas klar zu
werden wünscht, sollte sich vor allen Dingen einen Einblick in dieses Pandä-
monium verschaffen. Keine andre Stadt hat etwas ähnliches aufzuN'eisen; auch
Genf und London nicht. Aus aller Herren Ländern die unruhigsten und oft
auch die befähigtsten Köpfe, Ungarn, Polen, Serben, Portugiesen, Jungtürken,


Böhmische Wirren

Kenntnis giebt, haben länger vorgehalten als für eine Spanne Zeit; anch
von den zu Gunsten Österreichs aufgesetzten Urkunden sind gar manche hin¬
fällig geworden. Welcher besondre Umstand sollte der tschechischen Bevölkerung
Böhmens einen von den Wandlungen des Staatslebens unabhängigen Rechts¬
titel und das außergewöhnliche Privilegium gewähren, auf einer Zergliederung
des Gesamtstaats zu bestehn, die für diesen verhängnisvoll sein würde und
deshalb von allen, die nicht durch Svnderinteressen geblendet sind, verabscheut
und verweigert wird?

Was versprechen sich die Tschechen von einem wiederhergestellten, rings
von nichtslawischen Ländern eingeschlossenen Königreich Böhmen? Glauben
sie, es werde sich auf irgend einem Gebiet selbst genügen können? Sogar die
leidenschaftlichsten Parteiführer getrauen sich nicht, das zu behaupten. Soll es
sich um Rußland als den Hort des Panslawismus anlehnen? Die österreichische
Regierung hat jede erdenkliche Ursache, einer solchen Eventualität vorzubeugen.
Beabsichtige» sie, die österreichische Verwaltung beiseite zu schieben und durch
tschechische Einrichtungen zu ersetzen? Auch das würde dem Interesse des
Gesamtstaats schnurstracks entgegenlaufen.

Man hört in tschechischen Kreisen oft ünßern, daß man sich selbständig
machen müsse, um der beabsichtigten Germanisierung Böhmens wirksamer ent¬
gegentreten zu können. Was hat es mit diesen Germanisiernngsversuchen für
eine Bewandtnis? Worum handelt es sich im Grunde bei dem Widerstande,
den die Deutsch-Österreicher der Slawisierung Böhmens entgegensetzen, und
worin ihnen, unsrer Meinung nach, die österreichische Regierung nicht bloß
zur Seite stehn, sondern vorangehn sollte?

Die Deutsch-Österreicher — wenn wir hier von einigen Fanatikern absehen,
deren extreme Anschauungen wenig Beifall finden — wollen weder die Tschechen
noch deren Sprache und Kultur verdrängen: sie wollen nur nicht selbst von
ihnen verdrängt werden, und der Wirkungskreis der Negierungsorgane wie
das Gebiet der Staatssprache soll von den Tschechen nicht beeinträchtigt und
beschränkt werden. Daß diese Zurückdrängung des Deutsch-Österreichertnms in
der That beabsichtigt wird, davon legen vielfältige in öffentlichen Versamm
lungen gethane Äußerungen Zeugnis ab, und das beweist die Haltung der
städtischen Behörden, in denen die tschechische Majorität nach ihrem Gutdünken
handeln kann.

Zu Angelpunkten feindschaftlicher politischer Rivalität sind die nationalen
Gegensätze zwischen Deutsch-Österreichern und Tschechen recht eigentlich erst
durch die in Paris arbeitende und ganz unter französischem Einfluß stehende
kosmopolitische Presse gemacht worden. Wer sich über den Ursprung der neuen
revolutionären Bewegungen in den verschiedensten Staaten Europas klar zu
werden wünscht, sollte sich vor allen Dingen einen Einblick in dieses Pandä-
monium verschaffen. Keine andre Stadt hat etwas ähnliches aufzuN'eisen; auch
Genf und London nicht. Aus aller Herren Ländern die unruhigsten und oft
auch die befähigtsten Köpfe, Ungarn, Polen, Serben, Portugiesen, Jungtürken,


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[0294] Böhmische Wirren Kenntnis giebt, haben länger vorgehalten als für eine Spanne Zeit; anch von den zu Gunsten Österreichs aufgesetzten Urkunden sind gar manche hin¬ fällig geworden. Welcher besondre Umstand sollte der tschechischen Bevölkerung Böhmens einen von den Wandlungen des Staatslebens unabhängigen Rechts¬ titel und das außergewöhnliche Privilegium gewähren, auf einer Zergliederung des Gesamtstaats zu bestehn, die für diesen verhängnisvoll sein würde und deshalb von allen, die nicht durch Svnderinteressen geblendet sind, verabscheut und verweigert wird? Was versprechen sich die Tschechen von einem wiederhergestellten, rings von nichtslawischen Ländern eingeschlossenen Königreich Böhmen? Glauben sie, es werde sich auf irgend einem Gebiet selbst genügen können? Sogar die leidenschaftlichsten Parteiführer getrauen sich nicht, das zu behaupten. Soll es sich um Rußland als den Hort des Panslawismus anlehnen? Die österreichische Regierung hat jede erdenkliche Ursache, einer solchen Eventualität vorzubeugen. Beabsichtige» sie, die österreichische Verwaltung beiseite zu schieben und durch tschechische Einrichtungen zu ersetzen? Auch das würde dem Interesse des Gesamtstaats schnurstracks entgegenlaufen. Man hört in tschechischen Kreisen oft ünßern, daß man sich selbständig machen müsse, um der beabsichtigten Germanisierung Böhmens wirksamer ent¬ gegentreten zu können. Was hat es mit diesen Germanisiernngsversuchen für eine Bewandtnis? Worum handelt es sich im Grunde bei dem Widerstande, den die Deutsch-Österreicher der Slawisierung Böhmens entgegensetzen, und worin ihnen, unsrer Meinung nach, die österreichische Regierung nicht bloß zur Seite stehn, sondern vorangehn sollte? Die Deutsch-Österreicher — wenn wir hier von einigen Fanatikern absehen, deren extreme Anschauungen wenig Beifall finden — wollen weder die Tschechen noch deren Sprache und Kultur verdrängen: sie wollen nur nicht selbst von ihnen verdrängt werden, und der Wirkungskreis der Negierungsorgane wie das Gebiet der Staatssprache soll von den Tschechen nicht beeinträchtigt und beschränkt werden. Daß diese Zurückdrängung des Deutsch-Österreichertnms in der That beabsichtigt wird, davon legen vielfältige in öffentlichen Versamm lungen gethane Äußerungen Zeugnis ab, und das beweist die Haltung der städtischen Behörden, in denen die tschechische Majorität nach ihrem Gutdünken handeln kann. Zu Angelpunkten feindschaftlicher politischer Rivalität sind die nationalen Gegensätze zwischen Deutsch-Österreichern und Tschechen recht eigentlich erst durch die in Paris arbeitende und ganz unter französischem Einfluß stehende kosmopolitische Presse gemacht worden. Wer sich über den Ursprung der neuen revolutionären Bewegungen in den verschiedensten Staaten Europas klar zu werden wünscht, sollte sich vor allen Dingen einen Einblick in dieses Pandä- monium verschaffen. Keine andre Stadt hat etwas ähnliches aufzuN'eisen; auch Genf und London nicht. Aus aller Herren Ländern die unruhigsten und oft auch die befähigtsten Köpfe, Ungarn, Polen, Serben, Portugiesen, Jungtürken,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/294>, abgerufen am 04.07.2024.