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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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wissen Teil des Einkommens fürs Almosengeben zu bestimmen. Wer einen
solchen ihm gar nicht mehr gehörenden Fonds besitze, der sehe sich leichter
nach solchen um, für die er verwandt werden könne, und komme oft, wenn
er die stumme Bitte des Auges sehe, der Bitte des Mundes zuvor. "Diese
einzige Gewohnheit, allgemein verbreitet, würde die soziale Frage mehr er¬
ledigen helfen, als das ganze Gerede und Geschreibe, von dem jetzt die Welt
größtenteils fruchtlos wiederhallt."

Gewiß! Dagegen verkennt Hilty die Natur der sozialen Fragen -- die
Einzahl: die soziale Frage, hat gar keinen Sinn --, wenn er glaubt, sie
könnten wirklich durch die Religion gelöst werden. Richtig zwar ist es, wenn
er den Geiz Sünde nennt, der sich aus Kleinmut den Genuß des gewährten
Gegenwärtigen versagt oder verkümmert, und wenn er dann fortfährt: "Es ist
dies auch eine Erklärung der sozialen Frage, und sie beweist sogar die völlige
Unmöglichkeit ihrer auch nur annähernden Lösung, solange die Gesinnungen
bei den besitzenden wie den nichtbesitzenden Klassen bleiben, wie sie jetzt sind."
Dagegen stimme ich nicht bei, wenn er hinzusetzt: "und wie sie wohl auch unter
jeder andern Staatsordnung bleiben würden," denn die Angst vorm Verhungern
und vorm Herabsinken auf eine niedrigere soziale Stufe durch Vermögens- oder
Einkommensverlust ist wirklich im Altertum und im Mittelalter weder so groß
noch so allgemein gewesen wie heute; und zwar sind es nicht religiöse Er¬
wägungen, sondern wirtschaftliche Verhältnisse gewesen, die vor diesem Über¬
maß behütet haben. Am wenigsten aber stimme ich dem Schlußsatz dieser
Betrachtung bei: "Die soziale Frage wird daher bald durch die religiöse er¬
setzt und nur durch dieselbe gelöst werden. Vorher aber muß sie sich noch in
ihrem ganzen Atheismus zeigen." (An einer andern Stelle heißt es, die
soziale Frage werde weder durch die Kirche, uoch durch den Staat gelöst
werden, sondern durch die individuelle Liebe unzähliger Einzelner, deren jeder
in seinem Wirkungskreise seine Pflicht thut.) Daß Erfahrung die Nutzlosigkeit
und Thorheit des Atheismus zeigen und die Massen davon heilen wird, glaube
ich auch, aber der Lösung der sozialen Fragen wird uns das nicht näher
bringen; sind doch von den sozialen Übeln die gläubigen wie die ungläubigen,
die katholischen wie die protestantischen Länder fast in gleichem Grade, wenn
auch in verschiedner Weise ergriffen worden, wobei aber die Verschiedenheit
nicht etwa von der Religion, sondern von den Unterschieden der wirtschaftlichen
Zustände herrührt. Hilty hat den Blick zu ausschließlich auf die einzelne Seele
geheftet und darüber deu geschichtlichen Zusammenhang aus den Augen ver¬
loren. Es ist schon falsch, wenn er die Ansicht der Alten von der Notwendigkeit
der Sklaverei verurteilt. Es giebt wirklich Entwicklungsstufen, auf denen die
Sklaverei notwendig ist, und die Kultur hätte wirklich im Altertum ohne sie
nicht entsteh" können. Treitschke hat die antike Ansicht in ihrer ganzen Härte
noch für unsre Zeit aufrecht zu erhalten versucht, und wenn sich die schroffen
Äußerungen, die ihm im Kampfe gegen die sogenannten Kathedersozialisten ent¬
fahren sind, nicht in ihrem ganzen Umfange rechtfertigen lassen, so darf ihnen doch


Grenzboten I MV 17

wissen Teil des Einkommens fürs Almosengeben zu bestimmen. Wer einen
solchen ihm gar nicht mehr gehörenden Fonds besitze, der sehe sich leichter
nach solchen um, für die er verwandt werden könne, und komme oft, wenn
er die stumme Bitte des Auges sehe, der Bitte des Mundes zuvor. „Diese
einzige Gewohnheit, allgemein verbreitet, würde die soziale Frage mehr er¬
ledigen helfen, als das ganze Gerede und Geschreibe, von dem jetzt die Welt
größtenteils fruchtlos wiederhallt."

Gewiß! Dagegen verkennt Hilty die Natur der sozialen Fragen — die
Einzahl: die soziale Frage, hat gar keinen Sinn —, wenn er glaubt, sie
könnten wirklich durch die Religion gelöst werden. Richtig zwar ist es, wenn
er den Geiz Sünde nennt, der sich aus Kleinmut den Genuß des gewährten
Gegenwärtigen versagt oder verkümmert, und wenn er dann fortfährt: „Es ist
dies auch eine Erklärung der sozialen Frage, und sie beweist sogar die völlige
Unmöglichkeit ihrer auch nur annähernden Lösung, solange die Gesinnungen
bei den besitzenden wie den nichtbesitzenden Klassen bleiben, wie sie jetzt sind."
Dagegen stimme ich nicht bei, wenn er hinzusetzt: „und wie sie wohl auch unter
jeder andern Staatsordnung bleiben würden," denn die Angst vorm Verhungern
und vorm Herabsinken auf eine niedrigere soziale Stufe durch Vermögens- oder
Einkommensverlust ist wirklich im Altertum und im Mittelalter weder so groß
noch so allgemein gewesen wie heute; und zwar sind es nicht religiöse Er¬
wägungen, sondern wirtschaftliche Verhältnisse gewesen, die vor diesem Über¬
maß behütet haben. Am wenigsten aber stimme ich dem Schlußsatz dieser
Betrachtung bei: „Die soziale Frage wird daher bald durch die religiöse er¬
setzt und nur durch dieselbe gelöst werden. Vorher aber muß sie sich noch in
ihrem ganzen Atheismus zeigen." (An einer andern Stelle heißt es, die
soziale Frage werde weder durch die Kirche, uoch durch den Staat gelöst
werden, sondern durch die individuelle Liebe unzähliger Einzelner, deren jeder
in seinem Wirkungskreise seine Pflicht thut.) Daß Erfahrung die Nutzlosigkeit
und Thorheit des Atheismus zeigen und die Massen davon heilen wird, glaube
ich auch, aber der Lösung der sozialen Fragen wird uns das nicht näher
bringen; sind doch von den sozialen Übeln die gläubigen wie die ungläubigen,
die katholischen wie die protestantischen Länder fast in gleichem Grade, wenn
auch in verschiedner Weise ergriffen worden, wobei aber die Verschiedenheit
nicht etwa von der Religion, sondern von den Unterschieden der wirtschaftlichen
Zustände herrührt. Hilty hat den Blick zu ausschließlich auf die einzelne Seele
geheftet und darüber deu geschichtlichen Zusammenhang aus den Augen ver¬
loren. Es ist schon falsch, wenn er die Ansicht der Alten von der Notwendigkeit
der Sklaverei verurteilt. Es giebt wirklich Entwicklungsstufen, auf denen die
Sklaverei notwendig ist, und die Kultur hätte wirklich im Altertum ohne sie
nicht entsteh» können. Treitschke hat die antike Ansicht in ihrer ganzen Härte
noch für unsre Zeit aufrecht zu erhalten versucht, und wenn sich die schroffen
Äußerungen, die ihm im Kampfe gegen die sogenannten Kathedersozialisten ent¬
fahren sind, nicht in ihrem ganzen Umfange rechtfertigen lassen, so darf ihnen doch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/137>, abgerufen am 25.08.2024.