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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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seiner Ehre einzubüßen, Boeckh preist den Rhetor Lykurg als das größte
Finanzgcnie Athens; er habe in einer Zeit des Niedergangs die Finanzen des
Freistaats noch einmal in glänzenden Stand gebracht und sei dabei ein streng
rechtschaffner Mann und den alten Sitten getreu gewesen, unter anderm bar¬
fuß gegangen. Wäre ein preußischer Finanzminister möglich, der barfuß ginge?
Und doch ist das Barfußgehn bei uns im Sommer ebenso gut möglich wie in
Attika, wo es übrigens im Winter so gut schneite und gefror wie bei uns,
wenn auch die Kälte uicht so hoch stieg. Und welche Wohlthat das Barfu߬
gehn ist, bezeugen die Kinder, die, wenn sie es einmal gekostet haben, Strümpfe
und Schuhe gar uicht mehr anziehn mögen. Bei dem für eine gewisse soziale
Rangstufe geltenden Gebote, Schuhe und Strümpfe zu tragen, ist aber unsre
heutige Gesellschaft nicht stehn geblieben. Heute werden in vielen Gegenden
erwachsene Barfüßler, auch wenn sie dem niedrigsten Stande angehören, von
der Polizei nicht mehr auf der Straße geduldet, und Leute des höhern Mittel¬
stands können und dürfen, wenn sie ihre gesellschaftliche Stellung nicht ver¬
lieren wollen, für ihre Wohnung nicht weniger als tausend Mark ausgeben.
Daran hängt dann alles übrige, was nicht einzeln aufgezählt zu werden
braucht. Angenommen nun auch, es wäre nur verschrobne Eitelkeit, was die
Tyrannei des standesgemäßen erzeugt Hütte, so könnte sich doch kein Einzelner
dieser Tyrannei entziehn, nachdem sie so weit gediehn ist, daß ein Mann, der
nicht einen gewissen Aufwand macht, weder für sich, noch für seinen Sohn ein
seiner Abkunft und Befähigung angemessenes Amt und für seine Tochter eine
standesgemäße Partie bekommt; demnach ist jeder, der nicht den untersten
Klassen angehört, gezwungen, in einem gewissen Grade Luxus zu treiben und
die Mittel dafür zu erwerben. Aber jene Eitelkeit ist keineswegs die aus¬
schließliche und nicht einmal die Hauptursache. Diese liegt im heutigen wirt¬
schaftlichen Zustande, der das Dasein der meisten vom Maße des Warenver¬
kaufs abhängig macht. Die leitenden Persönlichkeiten treiben mit Berechnung
einen ihnen oft selbst lästigen Luxus und spornen die mittlern und untern
Schichten zur Nachfolge, weil sie wissen, daß Millionen von der Anfertigung
und vom Verkauf der Luxusgegenstände leben, und daß starke Einschränkung
über große Gewerbe eine Krisis bringen würde. Ja, so lächerlich es klingt,
der Luxus kann aus diesem Grunde geradeso als Pflicht der Nächstenliebe er¬
scheinen, wie in frühern Zeiten die Askese. Denn vor dem neunzehnten Jahr¬
hundert waren die Hungersnöte eine periodisch wiederkehrende und in manchen
Gegenden eine unaufhörliche Plage, und der Reiche, der sich satt aß, wußte,
daß er dadurch den Armem einen Teil des ihnen zukommenden Brots entzog,
und daß infolge seines Mehrverbrauchs vielleicht ein andrer Hungers sterben
werde. Demnach gebot die Liebe den Reichen, den Schmachtriemen enge zu
schnallen. Heute, wo die Not aus dem Überfluß entspringt, könnte man sagen,
es sei Pflicht, sich aus Liebe zu den notleidenden Landwirten den Magen nicht
allein mit Brot, Fleisch und Milch, sondern auch mit Zucker, Wein und Schnaps
zu überladen und Tabak zu rauchen, aus Liebe zu den Schneiden: und Schneide-


seiner Ehre einzubüßen, Boeckh preist den Rhetor Lykurg als das größte
Finanzgcnie Athens; er habe in einer Zeit des Niedergangs die Finanzen des
Freistaats noch einmal in glänzenden Stand gebracht und sei dabei ein streng
rechtschaffner Mann und den alten Sitten getreu gewesen, unter anderm bar¬
fuß gegangen. Wäre ein preußischer Finanzminister möglich, der barfuß ginge?
Und doch ist das Barfußgehn bei uns im Sommer ebenso gut möglich wie in
Attika, wo es übrigens im Winter so gut schneite und gefror wie bei uns,
wenn auch die Kälte uicht so hoch stieg. Und welche Wohlthat das Barfu߬
gehn ist, bezeugen die Kinder, die, wenn sie es einmal gekostet haben, Strümpfe
und Schuhe gar uicht mehr anziehn mögen. Bei dem für eine gewisse soziale
Rangstufe geltenden Gebote, Schuhe und Strümpfe zu tragen, ist aber unsre
heutige Gesellschaft nicht stehn geblieben. Heute werden in vielen Gegenden
erwachsene Barfüßler, auch wenn sie dem niedrigsten Stande angehören, von
der Polizei nicht mehr auf der Straße geduldet, und Leute des höhern Mittel¬
stands können und dürfen, wenn sie ihre gesellschaftliche Stellung nicht ver¬
lieren wollen, für ihre Wohnung nicht weniger als tausend Mark ausgeben.
Daran hängt dann alles übrige, was nicht einzeln aufgezählt zu werden
braucht. Angenommen nun auch, es wäre nur verschrobne Eitelkeit, was die
Tyrannei des standesgemäßen erzeugt Hütte, so könnte sich doch kein Einzelner
dieser Tyrannei entziehn, nachdem sie so weit gediehn ist, daß ein Mann, der
nicht einen gewissen Aufwand macht, weder für sich, noch für seinen Sohn ein
seiner Abkunft und Befähigung angemessenes Amt und für seine Tochter eine
standesgemäße Partie bekommt; demnach ist jeder, der nicht den untersten
Klassen angehört, gezwungen, in einem gewissen Grade Luxus zu treiben und
die Mittel dafür zu erwerben. Aber jene Eitelkeit ist keineswegs die aus¬
schließliche und nicht einmal die Hauptursache. Diese liegt im heutigen wirt¬
schaftlichen Zustande, der das Dasein der meisten vom Maße des Warenver¬
kaufs abhängig macht. Die leitenden Persönlichkeiten treiben mit Berechnung
einen ihnen oft selbst lästigen Luxus und spornen die mittlern und untern
Schichten zur Nachfolge, weil sie wissen, daß Millionen von der Anfertigung
und vom Verkauf der Luxusgegenstände leben, und daß starke Einschränkung
über große Gewerbe eine Krisis bringen würde. Ja, so lächerlich es klingt,
der Luxus kann aus diesem Grunde geradeso als Pflicht der Nächstenliebe er¬
scheinen, wie in frühern Zeiten die Askese. Denn vor dem neunzehnten Jahr¬
hundert waren die Hungersnöte eine periodisch wiederkehrende und in manchen
Gegenden eine unaufhörliche Plage, und der Reiche, der sich satt aß, wußte,
daß er dadurch den Armem einen Teil des ihnen zukommenden Brots entzog,
und daß infolge seines Mehrverbrauchs vielleicht ein andrer Hungers sterben
werde. Demnach gebot die Liebe den Reichen, den Schmachtriemen enge zu
schnallen. Heute, wo die Not aus dem Überfluß entspringt, könnte man sagen,
es sei Pflicht, sich aus Liebe zu den notleidenden Landwirten den Magen nicht
allein mit Brot, Fleisch und Milch, sondern auch mit Zucker, Wein und Schnaps
zu überladen und Tabak zu rauchen, aus Liebe zu den Schneiden: und Schneide-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/134>, abgerufen am 25.08.2024.