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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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kollisioncn, die Hilty sonderbarerweise gar nicht beachtet, erklärt für sich allein
schon hinlänglich die Lehre, daß der Mensch niemals von der Sünde loskommen
und durch nichts als den Glauben gerechtfertigt werden könne, eine Lehre, zu
der Luther freilich durch andre Erwägungen gelangt ist, und deren dogmatische
Formulierung ich nicht für besonders glücklich halte. Nur einmal scheint Hilty
daran gedacht zu haben: "Es giebt Situationen, wo das Nechthcmdeln nach
jeder Seite hin unmöglich ist und uur das Leiden, in manchen Fällen sogar
nur das Sterben die einzige noch mögliche That ist." Viel häufiger sind aber
die Situationen, wo man weder sterben noch passiv bleiben kann, sondern handeln
muß, obgleich man sieht oder wenigstens fürchtet, daß man Unrecht thue. So
leben alle Denkenden und Zartfühlenden notwendig mit einem mehr oder weniger
schlechten Gewissen. Der Entschluß: Ich will meine Schuld los werden, will
reinen Tisch machen, ist nur in den vereinzelten Füllen möglich, wo sich ein
edler Geist durch Leidenschaft zu Verschuldungen hat hinreißen lassen, ohne daß
ein ünßerer Zwang vorlag, indem er z. B. politische Gegner rachsüchtig ver¬
folgt oder im Ehebruch lebt; das sind Lagen, in denen einer sagen kann: Ich
will nicht mehr, ich will jetzt umkehren!

Schuld und Erlösung von der Schuld sind nicht Dinge, die ins Belieben
des Individuums gestellt wären; sie sind etwas Soziales, und das ist der
Wahrheitskern im Erbsünddogma, dessen kirchliche Form allerdings abgelehnt
werden muß. Die neuern Lutheraner haben seit dem Erscheinen von Alexander
von Öttingers Sozialethik diese Auffassung als echt lutherisch empfohlen,
Hilty aber, ein der Auffassung Zwinglis zuneigender echter Schweizer, sieht in
dcrHeilswirkung einen Vorgang, der sozusagen eine Privatangelegenheit zwischen
Gott und der einzelnen Seele ist. Trotzdem aber denkt und empfindet er, wie
ja auch Zwingli seiner Zeit, ganz sozial, und das erzeugt einen Mangel an
Folgerichtigkeit, der besonders in der Naturgeschichte des zweiten Höllenbundes,
der Sorge, hervortritt. Seine vortrefflichen Ratschläge zur Bekämpfung der
übermäßigen, unnützen und unverständigen Sorge, die für alle Zeiten und unter
allen Umstünden gelten, lassen wir beiseite und befassen uns nur mit dem, was
er über die eigentümlichen Sorgen unsrer Zeit sagt, und da stellt er nun so¬
wohl deren unchristlichen Charakter wie ihren sozialen Ursprung ganz vortrefflich
dar. Er sagt mit dem Apostel: Wenn wir Ncchruug und Kleider haben, so
lasset uns genügen; das Bedürfnis müsse den Maßstab abgeben für das zu
Erstrebende; was über diese natürlichen Bedürfnisse hinausgehe, das seien künst¬
liche Bedürfnisse, "die kein Maß mehr in sich haben und sich bei vorhandnen
Mitteln ins Abenteuerliche steigern. >Er klammert ein: Ludwig II. von Bayern;
die amerikanischen Milliardäre, die ihren Renngäulen Champagnerdiners und
ihren Wickclkindern Prinzessinnenausstattungen geben, sind noch schlagendere
Beispieles Das ist die Hnuptgefahr des Luxus und der Grund, weshalb er
die Menschen unfehlbar innerlich verdirbt." Dem Luxus hänge immer der
Makel des Unrechts an, da er unfehlbar einem andern das Seine entziehe und
eine Scheidewand zwischen den Menschen errichte, die nicht sein sollte. Die


kollisioncn, die Hilty sonderbarerweise gar nicht beachtet, erklärt für sich allein
schon hinlänglich die Lehre, daß der Mensch niemals von der Sünde loskommen
und durch nichts als den Glauben gerechtfertigt werden könne, eine Lehre, zu
der Luther freilich durch andre Erwägungen gelangt ist, und deren dogmatische
Formulierung ich nicht für besonders glücklich halte. Nur einmal scheint Hilty
daran gedacht zu haben: „Es giebt Situationen, wo das Nechthcmdeln nach
jeder Seite hin unmöglich ist und uur das Leiden, in manchen Fällen sogar
nur das Sterben die einzige noch mögliche That ist." Viel häufiger sind aber
die Situationen, wo man weder sterben noch passiv bleiben kann, sondern handeln
muß, obgleich man sieht oder wenigstens fürchtet, daß man Unrecht thue. So
leben alle Denkenden und Zartfühlenden notwendig mit einem mehr oder weniger
schlechten Gewissen. Der Entschluß: Ich will meine Schuld los werden, will
reinen Tisch machen, ist nur in den vereinzelten Füllen möglich, wo sich ein
edler Geist durch Leidenschaft zu Verschuldungen hat hinreißen lassen, ohne daß
ein ünßerer Zwang vorlag, indem er z. B. politische Gegner rachsüchtig ver¬
folgt oder im Ehebruch lebt; das sind Lagen, in denen einer sagen kann: Ich
will nicht mehr, ich will jetzt umkehren!

Schuld und Erlösung von der Schuld sind nicht Dinge, die ins Belieben
des Individuums gestellt wären; sie sind etwas Soziales, und das ist der
Wahrheitskern im Erbsünddogma, dessen kirchliche Form allerdings abgelehnt
werden muß. Die neuern Lutheraner haben seit dem Erscheinen von Alexander
von Öttingers Sozialethik diese Auffassung als echt lutherisch empfohlen,
Hilty aber, ein der Auffassung Zwinglis zuneigender echter Schweizer, sieht in
dcrHeilswirkung einen Vorgang, der sozusagen eine Privatangelegenheit zwischen
Gott und der einzelnen Seele ist. Trotzdem aber denkt und empfindet er, wie
ja auch Zwingli seiner Zeit, ganz sozial, und das erzeugt einen Mangel an
Folgerichtigkeit, der besonders in der Naturgeschichte des zweiten Höllenbundes,
der Sorge, hervortritt. Seine vortrefflichen Ratschläge zur Bekämpfung der
übermäßigen, unnützen und unverständigen Sorge, die für alle Zeiten und unter
allen Umstünden gelten, lassen wir beiseite und befassen uns nur mit dem, was
er über die eigentümlichen Sorgen unsrer Zeit sagt, und da stellt er nun so¬
wohl deren unchristlichen Charakter wie ihren sozialen Ursprung ganz vortrefflich
dar. Er sagt mit dem Apostel: Wenn wir Ncchruug und Kleider haben, so
lasset uns genügen; das Bedürfnis müsse den Maßstab abgeben für das zu
Erstrebende; was über diese natürlichen Bedürfnisse hinausgehe, das seien künst¬
liche Bedürfnisse, „die kein Maß mehr in sich haben und sich bei vorhandnen
Mitteln ins Abenteuerliche steigern. >Er klammert ein: Ludwig II. von Bayern;
die amerikanischen Milliardäre, die ihren Renngäulen Champagnerdiners und
ihren Wickclkindern Prinzessinnenausstattungen geben, sind noch schlagendere
Beispieles Das ist die Hnuptgefahr des Luxus und der Grund, weshalb er
die Menschen unfehlbar innerlich verdirbt." Dem Luxus hänge immer der
Makel des Unrechts an, da er unfehlbar einem andern das Seine entziehe und
eine Scheidewand zwischen den Menschen errichte, die nicht sein sollte. Die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/132>, abgerufen am 25.08.2024.