Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Industrie und Handel; der fünfte faßt die Ergebnisse zusammen und stellt Forderungen Maßgebliches und Unmaßgebliches Industrie und Handel; der fünfte faßt die Ergebnisse zusammen und stellt Forderungen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0108" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/232660"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_319" prev="#ID_318" next="#ID_320"> Industrie und Handel; der fünfte faßt die Ergebnisse zusammen und stellt Forderungen<lb/> auf. Diese Vortrage, die vor kurzem bei W, Kohlhammer in Stuttgart uuter dem<lb/> Titel: Über die neusten Veränderungen im deutscheu Wirtschaftsleben<lb/> erschienen sind, orientieren gut und unparteiisch über die genannten Gebiete und<lb/> sind von einem gedämpften Optimismus getragen; der letzte schließt mit der Mahnung:<lb/> „Halten Sie fest, meine Herren, um Monarchie und Beamtentum, den Säulen unsers<lb/> Staats!" — Karl Marx hat 18KS behauptet, zwei Drittel der nationalen Produkte<lb/> würden von einem Fünftel der Bevölkerung verbraucht. Ob das jemals für Eng¬<lb/> land zugetroffen hat, mag dahingestellt bleiben; daß es heute für Deutschland nicht<lb/> zutrifft, lehrt der Augenschein; nicht so kräftig wie dieser werden die schwer zu<lb/> kontrollierenden statistischen Berechnungen überzeugen, mit denen N- E. Mas in<lb/> einem soeben bei Duncker und Humblot in Leipzig erschienenen Schriftchen (Das<lb/> Verhältnis des Verbrauchs der Massen zu dem der Wohlhabenden) beweist,<lb/> daß das wohlhabende Fünftel nur ein Drittel verbraucht. Genau wird das wohl<lb/> überhaupt nicht zu ermitteln sein; weiß man denn z. B., wie viel ein jeder Mit¬<lb/> esser hat? Auch die Fälle aus dem Leben, mit denen May seine Berechnungen<lb/> stützt, sind nicht unanfechtbar, z. B- wenn er aus der Wurst der Köchin folgert, daß<lb/> der gemeine Mann durchschnittlich eine bessere Ernährung gewöhnt sei, als er sie<lb/> in der Kaserne bekomme. Das Soldatenleben macht eben mehr Appetit als das<lb/> Schneiderleben; trotzdem würde der Schneidergeselle die Wurst vielleicht auch nehmen,<lb/> aber wenn er nicht den bunten Rock nudae, kriegt er sie nicht. — Dr. Gottfried<lb/> Zöpfel wendet sich in einer Broschüre: Die Finanzpolitik der Verkehrs¬<lb/> anstalten (Berlin, Siemenroth und Troschel, 1898) gegen den Fiskalismus unsrer<lb/> Eisenbahnverwaltnng. Er gelangt mit seiner gründlichen finanztcchnischen Unter¬<lb/> suchung zu der Forderung: Ersatz für die Selbstkosten bei Eisenbahnen, Posten ssolj<lb/> und Telegraphen, dasselbe Sinn einer Einschränkung j bei Kanälen, Gebühreiifreiheit<lb/> für die Landstraßen, die sich schon bezahlt gemacht haben, und für die natürlichen<lb/> Wasserstraßen. — Der französische Deputierte Paulian hat das Pariser Bettelwesen<lb/> in Bettlerverkleidung studiert und erzählt in seinem Buche ?».riL qui wouäis u. a.<lb/> von einer Lumpensammlern,, die ihr Kind des jedesmaligen Almosens wegen zwölf¬<lb/> mal evangelisch und vierzehnmal katholisch hat taufen lassen. Mit dieser Anekdote<lb/> leitet Dr. Mr. F. Münsterberg, eine bekannte Autorität auf diesem Gebiete, fein<lb/> Buch ein: Die Armenpflege, Einführung in die praktische Pflegethätigkeit. (Berlin,<lb/> Otto Liebmann, 1897.) Seiner Erfahrung nach erzieht das Publikum die Armen<lb/> zum Bettel. Kein Armer werde von selbst Bettler; er werde es erst von dem<lb/> Augenblick um, wo er „mit Verwundrung" wahrnehme, wie leicht es sei, die Menschen<lb/> auszubeuten. Werde dem Notleidenden im kritischen Augenblick die richtige und<lb/> wirksame Hilfe zu teil, so werde die Neigung zum Mißbrauch gar nicht erst er¬<lb/> zeugt. Diese richtige Hilfe bleibt aber, wie Münsterberg selbst darthut, gewöhnlich<lb/> aus; die städtische Unterstützung reicht zusammen mit dem normalen Arbeitsverdienst<lb/> nicht hin, eine kinderreiche Witwe zu ernähren, und so bleibt dieser nichts übrig,<lb/> als entweder zu betteln oder sich krank zu arbeiten und die Kinder zu vernach¬<lb/> lässigen. Münsterberg behandelt in feinern sehr nützlichen Buch deu Begriff der Armut,<lb/> ihre Ursache», das Armeurecht, die verschiednen Arten der öffentlichen und Privat¬<lb/> armenpflege, die Versuche, Privatwohlthätigkeit und öffentliche Armenpflege in<lb/> organische Verbindung miteinander zu bringen, und giebt praktische Anleitung zur<lb/> Behandlung der Armen. Unter den ans dem Leben genommnen Beispielen ver¬<lb/> dienen besonders solche Beachtung, die zeigen, wie heruntergekvmmnen Familien<lb/> oft ohne Geldkosten geholfen werden kann. — Aus der Broschüre: Der Kampf<lb/> gegen die Arbeitslosigkeit in der Schweiz von Professor Dr. N. Reiches¬<lb/> berg (Bern, Steiger und Komp., 1899) erfahren wir, daß es die schweizerischen<lb/> Arbeiter nicht besser haben als unsre deutschen, und daß die Versuche einer Ver-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0108]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Industrie und Handel; der fünfte faßt die Ergebnisse zusammen und stellt Forderungen
auf. Diese Vortrage, die vor kurzem bei W, Kohlhammer in Stuttgart uuter dem
Titel: Über die neusten Veränderungen im deutscheu Wirtschaftsleben
erschienen sind, orientieren gut und unparteiisch über die genannten Gebiete und
sind von einem gedämpften Optimismus getragen; der letzte schließt mit der Mahnung:
„Halten Sie fest, meine Herren, um Monarchie und Beamtentum, den Säulen unsers
Staats!" — Karl Marx hat 18KS behauptet, zwei Drittel der nationalen Produkte
würden von einem Fünftel der Bevölkerung verbraucht. Ob das jemals für Eng¬
land zugetroffen hat, mag dahingestellt bleiben; daß es heute für Deutschland nicht
zutrifft, lehrt der Augenschein; nicht so kräftig wie dieser werden die schwer zu
kontrollierenden statistischen Berechnungen überzeugen, mit denen N- E. Mas in
einem soeben bei Duncker und Humblot in Leipzig erschienenen Schriftchen (Das
Verhältnis des Verbrauchs der Massen zu dem der Wohlhabenden) beweist,
daß das wohlhabende Fünftel nur ein Drittel verbraucht. Genau wird das wohl
überhaupt nicht zu ermitteln sein; weiß man denn z. B., wie viel ein jeder Mit¬
esser hat? Auch die Fälle aus dem Leben, mit denen May seine Berechnungen
stützt, sind nicht unanfechtbar, z. B- wenn er aus der Wurst der Köchin folgert, daß
der gemeine Mann durchschnittlich eine bessere Ernährung gewöhnt sei, als er sie
in der Kaserne bekomme. Das Soldatenleben macht eben mehr Appetit als das
Schneiderleben; trotzdem würde der Schneidergeselle die Wurst vielleicht auch nehmen,
aber wenn er nicht den bunten Rock nudae, kriegt er sie nicht. — Dr. Gottfried
Zöpfel wendet sich in einer Broschüre: Die Finanzpolitik der Verkehrs¬
anstalten (Berlin, Siemenroth und Troschel, 1898) gegen den Fiskalismus unsrer
Eisenbahnverwaltnng. Er gelangt mit seiner gründlichen finanztcchnischen Unter¬
suchung zu der Forderung: Ersatz für die Selbstkosten bei Eisenbahnen, Posten ssolj
und Telegraphen, dasselbe Sinn einer Einschränkung j bei Kanälen, Gebühreiifreiheit
für die Landstraßen, die sich schon bezahlt gemacht haben, und für die natürlichen
Wasserstraßen. — Der französische Deputierte Paulian hat das Pariser Bettelwesen
in Bettlerverkleidung studiert und erzählt in seinem Buche ?».riL qui wouäis u. a.
von einer Lumpensammlern,, die ihr Kind des jedesmaligen Almosens wegen zwölf¬
mal evangelisch und vierzehnmal katholisch hat taufen lassen. Mit dieser Anekdote
leitet Dr. Mr. F. Münsterberg, eine bekannte Autorität auf diesem Gebiete, fein
Buch ein: Die Armenpflege, Einführung in die praktische Pflegethätigkeit. (Berlin,
Otto Liebmann, 1897.) Seiner Erfahrung nach erzieht das Publikum die Armen
zum Bettel. Kein Armer werde von selbst Bettler; er werde es erst von dem
Augenblick um, wo er „mit Verwundrung" wahrnehme, wie leicht es sei, die Menschen
auszubeuten. Werde dem Notleidenden im kritischen Augenblick die richtige und
wirksame Hilfe zu teil, so werde die Neigung zum Mißbrauch gar nicht erst er¬
zeugt. Diese richtige Hilfe bleibt aber, wie Münsterberg selbst darthut, gewöhnlich
aus; die städtische Unterstützung reicht zusammen mit dem normalen Arbeitsverdienst
nicht hin, eine kinderreiche Witwe zu ernähren, und so bleibt dieser nichts übrig,
als entweder zu betteln oder sich krank zu arbeiten und die Kinder zu vernach¬
lässigen. Münsterberg behandelt in feinern sehr nützlichen Buch deu Begriff der Armut,
ihre Ursache», das Armeurecht, die verschiednen Arten der öffentlichen und Privat¬
armenpflege, die Versuche, Privatwohlthätigkeit und öffentliche Armenpflege in
organische Verbindung miteinander zu bringen, und giebt praktische Anleitung zur
Behandlung der Armen. Unter den ans dem Leben genommnen Beispielen ver¬
dienen besonders solche Beachtung, die zeigen, wie heruntergekvmmnen Familien
oft ohne Geldkosten geholfen werden kann. — Aus der Broschüre: Der Kampf
gegen die Arbeitslosigkeit in der Schweiz von Professor Dr. N. Reiches¬
berg (Bern, Steiger und Komp., 1899) erfahren wir, daß es die schweizerischen
Arbeiter nicht besser haben als unsre deutschen, und daß die Versuche einer Ver-
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