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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Aus Dichtung und Wahrheit über Shakespeares Leben

Gefahr, vielleicht zur Rechenschaft gezogen zu werden, vermieden, denn sollte
diese Widmung Anstoß erregen, konnte Thorpe sich leicht herausreden. Um¬
gekehrt würde es ja gerade bei dem sehr persönlichen Inhalt der Sonette
gewagt gewesen sein, den hochstehenden Earl of Pembrole so öffentlich mit
dem schönen Freunde in den Sonetten zu identifizieren. Wußte Thorpe, daß
der fragliche Mr. W. H. wirklich Pembrole war, so war es nur selbstver¬
ständlich, daß er dies verschleierte.

Zudem sind ja nicht alle Widmungen zugleich Bettelbriefe gewesen, durch
die sich der Herausgeber eine Gunstbezeugung von der Person, der er sein
Buch widmet, verschaffen wollte; die Fälle, die Lee selbst anführt, lehren dies
ja zur Genüge. Aber gewidmet mußte in der Regel ein neues Buch werden,
das war Mode, und wenn, wie im vorliegenden Falle, ein enger Zusammen¬
hang zwischen der Person, der die Widmung galt, und dem Inhalte des
Buches vorlag, so konnte eine solche geheimnisvolle, mystifizierende Ver¬
schleierung das Interesse an dem Buche nur steigern. Selbst der Fall wäre
denkbar, daß Thorpe gar nicht bestimmt wußte, wer mit dem Mr. W. H.
gemeint sei, daß er es vielleicht nur vermutete, daß vielleicht in dem Manu¬
skripte oder den Manuskripten, die er erhielt, und nach denen er druckte, einige
Sonette mit der Überschrift ?o Ur. M. I?. versehen waren-

Jedenfalls müssen wir nach dem gegenwärtigen Stande unsrer Kenntnisse
trotz situes Lee dabei bleiben, daß "Mr. W. H." der Held der "Prokreations¬
sonette" war, und daß man bisher keine historische Persönlichkeit gefunden hat,
die so zu ihnen stimmte wie William Earl of Pembrole. Selbst wenn man die
Entstehungszeit einiger Sonette in das Jahr 1594 zurückverlegen will, wäre
dies kein Hindernis. William Herbert war 1580 geboren, also 1594 schon
vierzehn Jahre alt, ein Alter, in dem damals Eheschließungen oder Ver¬
lobungen ganz gewöhnlich waren; aus dem Jahre 1597 haben wir Briefe
erhalten, in denen sich William Herberts Eltern in der Richtung bemühten,
und 1593, als Merch die Shakespearischen Sonette als ainouA dis xrivatö
ti'iönös kursierend erwähnt, war William Herbert schon achtzehn Jahre alt.

Bewiesen ist freilich damit die Identität des Mr. W. H. mit William
Herbert Earl of Pembrole noch nicht, dazu sind die Zeugnisse zu gering, jedoch
die Wahrscheinlichkeit, wie sie durch Tyler behauptet worden ist, ist durch
situes Lee nicht erschüttert worden. Wir dürfen also nach wie vor die Ver¬
mutung, daß Shakespeare mit dem künftigen Earl of Pembrole befreundet
gewesen, daß dieser der Gegenstand der "Prokreationssonette" gewesen, und
Wohl auch daß der Dichter in den Pembrolischen schöngeistigen Kreis auf¬
genommen worden sei, aufrechthalten. Damit ist, wenn auch nur vermutungs¬
weise, ein Stück aus des Dichters Leben etwas erhellt.

Eine andre Frage ist die nach der Persönlichkeit der dunkeln Dame in
den Sonetten. Tylers Mitteilungen in seinem genannten Buche ließen seine


Aus Dichtung und Wahrheit über Shakespeares Leben

Gefahr, vielleicht zur Rechenschaft gezogen zu werden, vermieden, denn sollte
diese Widmung Anstoß erregen, konnte Thorpe sich leicht herausreden. Um¬
gekehrt würde es ja gerade bei dem sehr persönlichen Inhalt der Sonette
gewagt gewesen sein, den hochstehenden Earl of Pembrole so öffentlich mit
dem schönen Freunde in den Sonetten zu identifizieren. Wußte Thorpe, daß
der fragliche Mr. W. H. wirklich Pembrole war, so war es nur selbstver¬
ständlich, daß er dies verschleierte.

Zudem sind ja nicht alle Widmungen zugleich Bettelbriefe gewesen, durch
die sich der Herausgeber eine Gunstbezeugung von der Person, der er sein
Buch widmet, verschaffen wollte; die Fälle, die Lee selbst anführt, lehren dies
ja zur Genüge. Aber gewidmet mußte in der Regel ein neues Buch werden,
das war Mode, und wenn, wie im vorliegenden Falle, ein enger Zusammen¬
hang zwischen der Person, der die Widmung galt, und dem Inhalte des
Buches vorlag, so konnte eine solche geheimnisvolle, mystifizierende Ver¬
schleierung das Interesse an dem Buche nur steigern. Selbst der Fall wäre
denkbar, daß Thorpe gar nicht bestimmt wußte, wer mit dem Mr. W. H.
gemeint sei, daß er es vielleicht nur vermutete, daß vielleicht in dem Manu¬
skripte oder den Manuskripten, die er erhielt, und nach denen er druckte, einige
Sonette mit der Überschrift ?o Ur. M. I?. versehen waren-

Jedenfalls müssen wir nach dem gegenwärtigen Stande unsrer Kenntnisse
trotz situes Lee dabei bleiben, daß „Mr. W. H." der Held der „Prokreations¬
sonette" war, und daß man bisher keine historische Persönlichkeit gefunden hat,
die so zu ihnen stimmte wie William Earl of Pembrole. Selbst wenn man die
Entstehungszeit einiger Sonette in das Jahr 1594 zurückverlegen will, wäre
dies kein Hindernis. William Herbert war 1580 geboren, also 1594 schon
vierzehn Jahre alt, ein Alter, in dem damals Eheschließungen oder Ver¬
lobungen ganz gewöhnlich waren; aus dem Jahre 1597 haben wir Briefe
erhalten, in denen sich William Herberts Eltern in der Richtung bemühten,
und 1593, als Merch die Shakespearischen Sonette als ainouA dis xrivatö
ti'iönös kursierend erwähnt, war William Herbert schon achtzehn Jahre alt.

Bewiesen ist freilich damit die Identität des Mr. W. H. mit William
Herbert Earl of Pembrole noch nicht, dazu sind die Zeugnisse zu gering, jedoch
die Wahrscheinlichkeit, wie sie durch Tyler behauptet worden ist, ist durch
situes Lee nicht erschüttert worden. Wir dürfen also nach wie vor die Ver¬
mutung, daß Shakespeare mit dem künftigen Earl of Pembrole befreundet
gewesen, daß dieser der Gegenstand der „Prokreationssonette" gewesen, und
Wohl auch daß der Dichter in den Pembrolischen schöngeistigen Kreis auf¬
genommen worden sei, aufrechthalten. Damit ist, wenn auch nur vermutungs¬
weise, ein Stück aus des Dichters Leben etwas erhellt.

Eine andre Frage ist die nach der Persönlichkeit der dunkeln Dame in
den Sonetten. Tylers Mitteilungen in seinem genannten Buche ließen seine


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[0082] Aus Dichtung und Wahrheit über Shakespeares Leben Gefahr, vielleicht zur Rechenschaft gezogen zu werden, vermieden, denn sollte diese Widmung Anstoß erregen, konnte Thorpe sich leicht herausreden. Um¬ gekehrt würde es ja gerade bei dem sehr persönlichen Inhalt der Sonette gewagt gewesen sein, den hochstehenden Earl of Pembrole so öffentlich mit dem schönen Freunde in den Sonetten zu identifizieren. Wußte Thorpe, daß der fragliche Mr. W. H. wirklich Pembrole war, so war es nur selbstver¬ ständlich, daß er dies verschleierte. Zudem sind ja nicht alle Widmungen zugleich Bettelbriefe gewesen, durch die sich der Herausgeber eine Gunstbezeugung von der Person, der er sein Buch widmet, verschaffen wollte; die Fälle, die Lee selbst anführt, lehren dies ja zur Genüge. Aber gewidmet mußte in der Regel ein neues Buch werden, das war Mode, und wenn, wie im vorliegenden Falle, ein enger Zusammen¬ hang zwischen der Person, der die Widmung galt, und dem Inhalte des Buches vorlag, so konnte eine solche geheimnisvolle, mystifizierende Ver¬ schleierung das Interesse an dem Buche nur steigern. Selbst der Fall wäre denkbar, daß Thorpe gar nicht bestimmt wußte, wer mit dem Mr. W. H. gemeint sei, daß er es vielleicht nur vermutete, daß vielleicht in dem Manu¬ skripte oder den Manuskripten, die er erhielt, und nach denen er druckte, einige Sonette mit der Überschrift ?o Ur. M. I?. versehen waren- Jedenfalls müssen wir nach dem gegenwärtigen Stande unsrer Kenntnisse trotz situes Lee dabei bleiben, daß „Mr. W. H." der Held der „Prokreations¬ sonette" war, und daß man bisher keine historische Persönlichkeit gefunden hat, die so zu ihnen stimmte wie William Earl of Pembrole. Selbst wenn man die Entstehungszeit einiger Sonette in das Jahr 1594 zurückverlegen will, wäre dies kein Hindernis. William Herbert war 1580 geboren, also 1594 schon vierzehn Jahre alt, ein Alter, in dem damals Eheschließungen oder Ver¬ lobungen ganz gewöhnlich waren; aus dem Jahre 1597 haben wir Briefe erhalten, in denen sich William Herberts Eltern in der Richtung bemühten, und 1593, als Merch die Shakespearischen Sonette als ainouA dis xrivatö ti'iönös kursierend erwähnt, war William Herbert schon achtzehn Jahre alt. Bewiesen ist freilich damit die Identität des Mr. W. H. mit William Herbert Earl of Pembrole noch nicht, dazu sind die Zeugnisse zu gering, jedoch die Wahrscheinlichkeit, wie sie durch Tyler behauptet worden ist, ist durch situes Lee nicht erschüttert worden. Wir dürfen also nach wie vor die Ver¬ mutung, daß Shakespeare mit dem künftigen Earl of Pembrole befreundet gewesen, daß dieser der Gegenstand der „Prokreationssonette" gewesen, und Wohl auch daß der Dichter in den Pembrolischen schöngeistigen Kreis auf¬ genommen worden sei, aufrechthalten. Damit ist, wenn auch nur vermutungs¬ weise, ein Stück aus des Dichters Leben etwas erhellt. Eine andre Frage ist die nach der Persönlichkeit der dunkeln Dame in den Sonetten. Tylers Mitteilungen in seinem genannten Buche ließen seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/82>, abgerufen am 15.01.2025.