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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur

gefestigten Charakter aber, dessen Ansichten über Gott und Welt iwch schwanken,
ist Nietzsche Gift. Dem Verfasser des Buches muß übrigens nachgerühmt werden,
daß er nicht ein fanatischer, sondern ein besonnener Verehrer Nietzsches und ein
objektiver Berichterstatter ist, und der Frau Elisabeth Förster-Nietzsche begegnet man
immer gern. Sie ist eine wirklich bedeutende Frnn, die mit niännlichem Wissen
und männlicher Energie die edelste weibliche Tugend: aufopfernde, hingebende Liebe,
im höchsten Grade verbindet, -- Nietzsches "Philosophie" kann man weder versteh"
noch leben; die von Heinrich Lüdemann (Die Vorherrschaft des Geistes,
rcligivnsphilosophische und erkeuntnisthevretische Aperyus. Berlin, Hermann Eich¬
blatt, 1899) kann man sowohl versteh" als auch leben, wenn man sie annimmt.
Ohne Einschränkung nehmen wir sie nicht an; so geben wir z. B. nicht zu, daß
"die Willensäußerungen des natürlichen Menschen" unser "satanisches Subjekt"
seien. Aber in vielem stimmen wir ihm bei, z. B. wenn er Seite 50 schreibt:
"Will man wissen, ob jemand ein Egoist sei, so hat man nicht zu erforschen,
ob er in seinen Handlungen Selbstbefriedigung suche, sondern mau muß fragen,
welcher Art das Ziel sei, um dem er seine Lust und Genugthuung finde." Der
Verfasser fängt ganz abstrakt an und wird dann immer konkreter, veranschau¬
licht z. B. sehr hübsch die Seelenverfassung eiues antiken Staatsbürgers an der
eines niedersnchsischen Bauern. -- Zum Schluß teilen wir mit, daß Eduard
von Hartmnnn soeben bei Hermann Haacke in Leipzig den ersten Teil einer
Geschichte der Metaphhsik herausgegeben Hot. Die ausführliche Besprechung
verschieben wir, bis der zweite, mit Kant beginnende Teil heraus sein wird.




Litteratur
Geschichte des Kolosseums. Von Heinrich Bcibucke. Königsberg i. Pr., W.Koch, 1899

Es ist merkwürdig, daß bisher noch niemand unternommen hat, die Geschichte
des großartigsten und wundcrreichsten Denkmals, das uns die antik-römische Welt
hinterlassen hat, im Zusammenhange zu schildern; das Kolosseum lehrt uns nach
einem Worte Paul Heyses, wie kein andres Bauwerk, die Kunst des Erinnerns. Wenn
sich jetzt der Direktor des Altstädtischen Ghmnasiums in Königsberg, Dr. Babncke,
dieser Aufgabe unterzogen hat, so thut er es in einer Weise, die ihm den Dank
jedes Gebildeten sichert. Sein Büchlein bietet weit mehr, als der Titel ahnen
läßt, indem es uns einen merkwürdigen Einblick in die sittlichen Anschauungen und
Wandlungen einer großstädtischen Bevölkerung wahrend des Verlaufs zweier Jahr¬
tausende gewährt. Auf Grund langjähriger gewissenhafter Forschungen weiß der
Verfasser uns klar und übersichtlich die einstige Anordnung und Zweckbestimmung
der einzelnen Teile des Gebäudes vorzuführen, in lebensvoller, farbenreicher Sprache
von den blutigen Kämpfen, von der Entfaltung reichster üppigster Pracht und von
dem wahnwitzigen Treiben der Imperatoren zu erzählen und sodann die Schicksale
des Kolosseums in christlicher Zeit zu schildern, seine Zerstörung durch Erdbeben
und menschliche Thorheit, seine Verwendung als Festung, Steinbruch und Kalkgrube,
seine Einrichtung für religiöse Andachten aller Art, und endlich seine Wieder-


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gefestigten Charakter aber, dessen Ansichten über Gott und Welt iwch schwanken,
ist Nietzsche Gift. Dem Verfasser des Buches muß übrigens nachgerühmt werden,
daß er nicht ein fanatischer, sondern ein besonnener Verehrer Nietzsches und ein
objektiver Berichterstatter ist, und der Frau Elisabeth Förster-Nietzsche begegnet man
immer gern. Sie ist eine wirklich bedeutende Frnn, die mit niännlichem Wissen
und männlicher Energie die edelste weibliche Tugend: aufopfernde, hingebende Liebe,
im höchsten Grade verbindet, — Nietzsches „Philosophie" kann man weder versteh»
noch leben; die von Heinrich Lüdemann (Die Vorherrschaft des Geistes,
rcligivnsphilosophische und erkeuntnisthevretische Aperyus. Berlin, Hermann Eich¬
blatt, 1899) kann man sowohl versteh» als auch leben, wenn man sie annimmt.
Ohne Einschränkung nehmen wir sie nicht an; so geben wir z. B. nicht zu, daß
„die Willensäußerungen des natürlichen Menschen" unser „satanisches Subjekt"
seien. Aber in vielem stimmen wir ihm bei, z. B. wenn er Seite 50 schreibt:
„Will man wissen, ob jemand ein Egoist sei, so hat man nicht zu erforschen,
ob er in seinen Handlungen Selbstbefriedigung suche, sondern mau muß fragen,
welcher Art das Ziel sei, um dem er seine Lust und Genugthuung finde." Der
Verfasser fängt ganz abstrakt an und wird dann immer konkreter, veranschau¬
licht z. B. sehr hübsch die Seelenverfassung eiues antiken Staatsbürgers an der
eines niedersnchsischen Bauern. — Zum Schluß teilen wir mit, daß Eduard
von Hartmnnn soeben bei Hermann Haacke in Leipzig den ersten Teil einer
Geschichte der Metaphhsik herausgegeben Hot. Die ausführliche Besprechung
verschieben wir, bis der zweite, mit Kant beginnende Teil heraus sein wird.




Litteratur
Geschichte des Kolosseums. Von Heinrich Bcibucke. Königsberg i. Pr., W.Koch, 1899

Es ist merkwürdig, daß bisher noch niemand unternommen hat, die Geschichte
des großartigsten und wundcrreichsten Denkmals, das uns die antik-römische Welt
hinterlassen hat, im Zusammenhange zu schildern; das Kolosseum lehrt uns nach
einem Worte Paul Heyses, wie kein andres Bauwerk, die Kunst des Erinnerns. Wenn
sich jetzt der Direktor des Altstädtischen Ghmnasiums in Königsberg, Dr. Babncke,
dieser Aufgabe unterzogen hat, so thut er es in einer Weise, die ihm den Dank
jedes Gebildeten sichert. Sein Büchlein bietet weit mehr, als der Titel ahnen
läßt, indem es uns einen merkwürdigen Einblick in die sittlichen Anschauungen und
Wandlungen einer großstädtischen Bevölkerung wahrend des Verlaufs zweier Jahr¬
tausende gewährt. Auf Grund langjähriger gewissenhafter Forschungen weiß der
Verfasser uns klar und übersichtlich die einstige Anordnung und Zweckbestimmung
der einzelnen Teile des Gebäudes vorzuführen, in lebensvoller, farbenreicher Sprache
von den blutigen Kämpfen, von der Entfaltung reichster üppigster Pracht und von
dem wahnwitzigen Treiben der Imperatoren zu erzählen und sodann die Schicksale
des Kolosseums in christlicher Zeit zu schildern, seine Zerstörung durch Erdbeben
und menschliche Thorheit, seine Verwendung als Festung, Steinbruch und Kalkgrube,
seine Einrichtung für religiöse Andachten aller Art, und endlich seine Wieder-


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[0635] Litteratur gefestigten Charakter aber, dessen Ansichten über Gott und Welt iwch schwanken, ist Nietzsche Gift. Dem Verfasser des Buches muß übrigens nachgerühmt werden, daß er nicht ein fanatischer, sondern ein besonnener Verehrer Nietzsches und ein objektiver Berichterstatter ist, und der Frau Elisabeth Förster-Nietzsche begegnet man immer gern. Sie ist eine wirklich bedeutende Frnn, die mit niännlichem Wissen und männlicher Energie die edelste weibliche Tugend: aufopfernde, hingebende Liebe, im höchsten Grade verbindet, — Nietzsches „Philosophie" kann man weder versteh» noch leben; die von Heinrich Lüdemann (Die Vorherrschaft des Geistes, rcligivnsphilosophische und erkeuntnisthevretische Aperyus. Berlin, Hermann Eich¬ blatt, 1899) kann man sowohl versteh» als auch leben, wenn man sie annimmt. Ohne Einschränkung nehmen wir sie nicht an; so geben wir z. B. nicht zu, daß „die Willensäußerungen des natürlichen Menschen" unser „satanisches Subjekt" seien. Aber in vielem stimmen wir ihm bei, z. B. wenn er Seite 50 schreibt: „Will man wissen, ob jemand ein Egoist sei, so hat man nicht zu erforschen, ob er in seinen Handlungen Selbstbefriedigung suche, sondern mau muß fragen, welcher Art das Ziel sei, um dem er seine Lust und Genugthuung finde." Der Verfasser fängt ganz abstrakt an und wird dann immer konkreter, veranschau¬ licht z. B. sehr hübsch die Seelenverfassung eiues antiken Staatsbürgers an der eines niedersnchsischen Bauern. — Zum Schluß teilen wir mit, daß Eduard von Hartmnnn soeben bei Hermann Haacke in Leipzig den ersten Teil einer Geschichte der Metaphhsik herausgegeben Hot. Die ausführliche Besprechung verschieben wir, bis der zweite, mit Kant beginnende Teil heraus sein wird. Litteratur Geschichte des Kolosseums. Von Heinrich Bcibucke. Königsberg i. Pr., W.Koch, 1899 Es ist merkwürdig, daß bisher noch niemand unternommen hat, die Geschichte des großartigsten und wundcrreichsten Denkmals, das uns die antik-römische Welt hinterlassen hat, im Zusammenhange zu schildern; das Kolosseum lehrt uns nach einem Worte Paul Heyses, wie kein andres Bauwerk, die Kunst des Erinnerns. Wenn sich jetzt der Direktor des Altstädtischen Ghmnasiums in Königsberg, Dr. Babncke, dieser Aufgabe unterzogen hat, so thut er es in einer Weise, die ihm den Dank jedes Gebildeten sichert. Sein Büchlein bietet weit mehr, als der Titel ahnen läßt, indem es uns einen merkwürdigen Einblick in die sittlichen Anschauungen und Wandlungen einer großstädtischen Bevölkerung wahrend des Verlaufs zweier Jahr¬ tausende gewährt. Auf Grund langjähriger gewissenhafter Forschungen weiß der Verfasser uns klar und übersichtlich die einstige Anordnung und Zweckbestimmung der einzelnen Teile des Gebäudes vorzuführen, in lebensvoller, farbenreicher Sprache von den blutigen Kämpfen, von der Entfaltung reichster üppigster Pracht und von dem wahnwitzigen Treiben der Imperatoren zu erzählen und sodann die Schicksale des Kolosseums in christlicher Zeit zu schildern, seine Zerstörung durch Erdbeben und menschliche Thorheit, seine Verwendung als Festung, Steinbruch und Kalkgrube, seine Einrichtung für religiöse Andachten aller Art, und endlich seine Wieder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/635>, abgerufen am 15.01.2025.