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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Thüringer Märchen

das ja auch so. Der Hausbesitzer war zwar kein Dachs oder Bär, aber doch ein
Waldgenosse; denn er brachte die meiste Zeit seines Lebens im Walde zu. Er
war Holzmacher und Köhler. Das waren auch schon sein Vater, Groß-, Ur- und
Ururgroßvater gewesen. Der jetzige Hausbesitzer war jedoch der letzte seines
Stammes; denn er hatte nur eine Tochter und eine Enkelin. Und mit denen ist
es so gegangen im Leben, daß das Haus zuletzt leer stand. Aber mehr kann vor
der Hand davon nicht gesagt werden, sonst wird aus der Geschichte nichts.

Wenn des Köhlers Frau ihm Essen in den Wald trug und ihm nicht weit
von dem Meiler den Tisch deckte, das heißt das Tischtuch aufs Gras breitete und
darauf anrichtete, daß es dampfte: da schmunzelte der Alte und hängte sein Tabak¬
pfeifchen am dürren Zinken eines Baumstamms auf und legte sich neben das Gedeck,
stützte sich auf den linken Ellenbogen und fing so gemütlich mit der Rechten an zu
löffeln, daß sich seine Frau, die auf der andern Seite des Tisches lag und ihm
zusah, so sehr freute wie damals, als ihr Enkelchen zum erstenmal den Löffel allein
führte. Wenn der Köhler die Nacht bei seinem Meiler bleiben mußte, ging sein
Weib oft erst nach Haus, wenn es zu dämmern begann. Bis zum Abschied suchte
sie dann überall im Wald umher Kräuter -- Heilkräuter für arme Kranke. Die
Wissenschaft darum hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Das meiste aber von ihrer
Kräuterkenntnis erfuhr sie auf eine ganz merkwürdige Art.

Einmal auf dem Heimweg in der Dämmerung ging durch den Wald ihr zur
Seite ein Mann in großen- Mantel, mit einem breiten Gürtel um die Lenden und
einem breitkrempigen Hut auf dem langhaarigen Kopf und mit einem Bart, der
beinahe bis zum Gürtel reichte. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie sie zu dieser
Begleitung gekommen war, und als sie auf einmal angeredet wurde, wäre sie bei¬
nahe vor Schreck in die Erde gesunken. Aber der Mann redete ihr mit so gütigen
Worten zu, daß sie sich bald ein Herz faßte und fragte: Wo wollt ihr denn hin?
Darauf erwiderte der Fremde: Es kann dir nichts nützen, das zu wissen. Und
wenn ich dir einen Rat geben soll, so frage mich nicht danach, wer ich bin, wo
ich herkomme oder hingehe. Und wenn dn mir folgst, so soll es nicht dein Schaden
sein, denn ich kann mehr als Brotessen. Darauf hat der Mann dem Köhlerweib
von den Krankheiten der Menschen und von heilkräftigen Pflanzen, was hierfür
und dafür gut, und wie dieser Thee oder jene Salbe zu bereiten sei, kurz so
mancherlei Gutes mitgeteilt, daß das Weib auf dem kurzen Gang durch den Wald
mehr gelernt hat, als mancher Student heute noch in einem Vierteljahr auf der
Hochschule lernt. Freilich wars nur ein kurzer Gang; denn am Waldsäume, nicht
weit vom Köhlerhaus, sagte der Mann: Auf Wiedersehen! Dann verschwand er
im Walde.

Es traf auch ein, das Wiedersehen, nicht nur ein- oder zweimal, sondern
öfter. Und wenn einmal die Köhlerfrau um Hilfe angerufen wurde wegen einer
Krankheit, von der sie noch zu wenig wußte, und wenn sie sich dabei nicht
zu helfen wußte, da fragte sie bei der nächsten Begegnung den fremden Mann
darüber, und der wußte immer guten Rat. So kam es, daß die Köhlerfrau
mit ihrer Wissenschaft nach Jahr und Tag gar sehr begehrt war. Und das
war gut. Eines Tags brachten sie ihren armen Mann tot aus dem Walde ge¬
tragen. Beim Holzfällen war er von einer stürzenden Buche erschlagen worden.
Nun war sie eine arme Witwe und war mit ihrer Enkelin allein, weil ihr Tochter¬
mann -- ein Maurer -- mit seinem Weibe in die Stadt gezogen war. Er hatte
nicht mehr die Wege aus dem Köhlerhans in die Stadt, wohin er ans die Arbeit
ging, und nach Feierabend wieder zurück, machen mögen; und seine Fran, die


Thüringer Märchen

das ja auch so. Der Hausbesitzer war zwar kein Dachs oder Bär, aber doch ein
Waldgenosse; denn er brachte die meiste Zeit seines Lebens im Walde zu. Er
war Holzmacher und Köhler. Das waren auch schon sein Vater, Groß-, Ur- und
Ururgroßvater gewesen. Der jetzige Hausbesitzer war jedoch der letzte seines
Stammes; denn er hatte nur eine Tochter und eine Enkelin. Und mit denen ist
es so gegangen im Leben, daß das Haus zuletzt leer stand. Aber mehr kann vor
der Hand davon nicht gesagt werden, sonst wird aus der Geschichte nichts.

Wenn des Köhlers Frau ihm Essen in den Wald trug und ihm nicht weit
von dem Meiler den Tisch deckte, das heißt das Tischtuch aufs Gras breitete und
darauf anrichtete, daß es dampfte: da schmunzelte der Alte und hängte sein Tabak¬
pfeifchen am dürren Zinken eines Baumstamms auf und legte sich neben das Gedeck,
stützte sich auf den linken Ellenbogen und fing so gemütlich mit der Rechten an zu
löffeln, daß sich seine Frau, die auf der andern Seite des Tisches lag und ihm
zusah, so sehr freute wie damals, als ihr Enkelchen zum erstenmal den Löffel allein
führte. Wenn der Köhler die Nacht bei seinem Meiler bleiben mußte, ging sein
Weib oft erst nach Haus, wenn es zu dämmern begann. Bis zum Abschied suchte
sie dann überall im Wald umher Kräuter — Heilkräuter für arme Kranke. Die
Wissenschaft darum hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Das meiste aber von ihrer
Kräuterkenntnis erfuhr sie auf eine ganz merkwürdige Art.

Einmal auf dem Heimweg in der Dämmerung ging durch den Wald ihr zur
Seite ein Mann in großen- Mantel, mit einem breiten Gürtel um die Lenden und
einem breitkrempigen Hut auf dem langhaarigen Kopf und mit einem Bart, der
beinahe bis zum Gürtel reichte. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie sie zu dieser
Begleitung gekommen war, und als sie auf einmal angeredet wurde, wäre sie bei¬
nahe vor Schreck in die Erde gesunken. Aber der Mann redete ihr mit so gütigen
Worten zu, daß sie sich bald ein Herz faßte und fragte: Wo wollt ihr denn hin?
Darauf erwiderte der Fremde: Es kann dir nichts nützen, das zu wissen. Und
wenn ich dir einen Rat geben soll, so frage mich nicht danach, wer ich bin, wo
ich herkomme oder hingehe. Und wenn dn mir folgst, so soll es nicht dein Schaden
sein, denn ich kann mehr als Brotessen. Darauf hat der Mann dem Köhlerweib
von den Krankheiten der Menschen und von heilkräftigen Pflanzen, was hierfür
und dafür gut, und wie dieser Thee oder jene Salbe zu bereiten sei, kurz so
mancherlei Gutes mitgeteilt, daß das Weib auf dem kurzen Gang durch den Wald
mehr gelernt hat, als mancher Student heute noch in einem Vierteljahr auf der
Hochschule lernt. Freilich wars nur ein kurzer Gang; denn am Waldsäume, nicht
weit vom Köhlerhaus, sagte der Mann: Auf Wiedersehen! Dann verschwand er
im Walde.

Es traf auch ein, das Wiedersehen, nicht nur ein- oder zweimal, sondern
öfter. Und wenn einmal die Köhlerfrau um Hilfe angerufen wurde wegen einer
Krankheit, von der sie noch zu wenig wußte, und wenn sie sich dabei nicht
zu helfen wußte, da fragte sie bei der nächsten Begegnung den fremden Mann
darüber, und der wußte immer guten Rat. So kam es, daß die Köhlerfrau
mit ihrer Wissenschaft nach Jahr und Tag gar sehr begehrt war. Und das
war gut. Eines Tags brachten sie ihren armen Mann tot aus dem Walde ge¬
tragen. Beim Holzfällen war er von einer stürzenden Buche erschlagen worden.
Nun war sie eine arme Witwe und war mit ihrer Enkelin allein, weil ihr Tochter¬
mann — ein Maurer — mit seinem Weibe in die Stadt gezogen war. Er hatte
nicht mehr die Wege aus dem Köhlerhans in die Stadt, wohin er ans die Arbeit
ging, und nach Feierabend wieder zurück, machen mögen; und seine Fran, die


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[0622] Thüringer Märchen das ja auch so. Der Hausbesitzer war zwar kein Dachs oder Bär, aber doch ein Waldgenosse; denn er brachte die meiste Zeit seines Lebens im Walde zu. Er war Holzmacher und Köhler. Das waren auch schon sein Vater, Groß-, Ur- und Ururgroßvater gewesen. Der jetzige Hausbesitzer war jedoch der letzte seines Stammes; denn er hatte nur eine Tochter und eine Enkelin. Und mit denen ist es so gegangen im Leben, daß das Haus zuletzt leer stand. Aber mehr kann vor der Hand davon nicht gesagt werden, sonst wird aus der Geschichte nichts. Wenn des Köhlers Frau ihm Essen in den Wald trug und ihm nicht weit von dem Meiler den Tisch deckte, das heißt das Tischtuch aufs Gras breitete und darauf anrichtete, daß es dampfte: da schmunzelte der Alte und hängte sein Tabak¬ pfeifchen am dürren Zinken eines Baumstamms auf und legte sich neben das Gedeck, stützte sich auf den linken Ellenbogen und fing so gemütlich mit der Rechten an zu löffeln, daß sich seine Frau, die auf der andern Seite des Tisches lag und ihm zusah, so sehr freute wie damals, als ihr Enkelchen zum erstenmal den Löffel allein führte. Wenn der Köhler die Nacht bei seinem Meiler bleiben mußte, ging sein Weib oft erst nach Haus, wenn es zu dämmern begann. Bis zum Abschied suchte sie dann überall im Wald umher Kräuter — Heilkräuter für arme Kranke. Die Wissenschaft darum hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Das meiste aber von ihrer Kräuterkenntnis erfuhr sie auf eine ganz merkwürdige Art. Einmal auf dem Heimweg in der Dämmerung ging durch den Wald ihr zur Seite ein Mann in großen- Mantel, mit einem breiten Gürtel um die Lenden und einem breitkrempigen Hut auf dem langhaarigen Kopf und mit einem Bart, der beinahe bis zum Gürtel reichte. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie sie zu dieser Begleitung gekommen war, und als sie auf einmal angeredet wurde, wäre sie bei¬ nahe vor Schreck in die Erde gesunken. Aber der Mann redete ihr mit so gütigen Worten zu, daß sie sich bald ein Herz faßte und fragte: Wo wollt ihr denn hin? Darauf erwiderte der Fremde: Es kann dir nichts nützen, das zu wissen. Und wenn ich dir einen Rat geben soll, so frage mich nicht danach, wer ich bin, wo ich herkomme oder hingehe. Und wenn dn mir folgst, so soll es nicht dein Schaden sein, denn ich kann mehr als Brotessen. Darauf hat der Mann dem Köhlerweib von den Krankheiten der Menschen und von heilkräftigen Pflanzen, was hierfür und dafür gut, und wie dieser Thee oder jene Salbe zu bereiten sei, kurz so mancherlei Gutes mitgeteilt, daß das Weib auf dem kurzen Gang durch den Wald mehr gelernt hat, als mancher Student heute noch in einem Vierteljahr auf der Hochschule lernt. Freilich wars nur ein kurzer Gang; denn am Waldsäume, nicht weit vom Köhlerhaus, sagte der Mann: Auf Wiedersehen! Dann verschwand er im Walde. Es traf auch ein, das Wiedersehen, nicht nur ein- oder zweimal, sondern öfter. Und wenn einmal die Köhlerfrau um Hilfe angerufen wurde wegen einer Krankheit, von der sie noch zu wenig wußte, und wenn sie sich dabei nicht zu helfen wußte, da fragte sie bei der nächsten Begegnung den fremden Mann darüber, und der wußte immer guten Rat. So kam es, daß die Köhlerfrau mit ihrer Wissenschaft nach Jahr und Tag gar sehr begehrt war. Und das war gut. Eines Tags brachten sie ihren armen Mann tot aus dem Walde ge¬ tragen. Beim Holzfällen war er von einer stürzenden Buche erschlagen worden. Nun war sie eine arme Witwe und war mit ihrer Enkelin allein, weil ihr Tochter¬ mann — ein Maurer — mit seinem Weibe in die Stadt gezogen war. Er hatte nicht mehr die Wege aus dem Köhlerhans in die Stadt, wohin er ans die Arbeit ging, und nach Feierabend wieder zurück, machen mögen; und seine Fran, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/622>, abgerufen am 15.01.2025.