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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Briefe eines Zurückgekehrten

daß der Kaiser vollauf Recht hatte, als er gerade an den Betrieb des Geschichts¬
unterrichts an deutschen Schulen die bessernde Hand legen wollte. Der Deutsche,
der die Geschichte seines Volks vernachlässigt, kommt mir wie ein Mann vor,
der statt des edeln alten Weins, den er im Keller hat, Krätzer trinkt.

Wir haben zum Schluß Wolfenbüttel besucht, die Stadt Lessings. Wie klein
ist hier das achtzehnte Jahrhundert in seinen Denkmälern. In Wolfenbüttel
ist wohl die alte Bibliothek Lessings erneuert, und auch sonst sind manche Häuser
nen errichtet oder aufgesetzt worden. Aber es ist doch im ganzen immer nur
ein kleiner, enger, holpriger Eindruck, den das Städtchen macht. Gemütlich,
aber beschränkt. Das kleine Haus gegenüber der Bibliothek, wo Lessing ge¬
wohnt hat, paßt in diese alte Stadt hinein. Es besteht nur aus Erdgeschoß,
aber seine Zimmer sind geräumig, und ihre zopfige Ausschmückung ist nicht
ungefällig. Und auf Lessings Tisch hat wohl dasselbe Grün hereingeleuchtet,
das heute diese Oase in der Wüste des Schloßplatzes so freundlich macht. Das
erleichtert uns. Aber immerhin erhält man von der isolierten Hohe, auf der
el" Gcistesheld steht, so recht einen Begriff, wenn man die Spurlosigkeit des
Wirkens eines Lessing in Wolfenbüttel bemerkt. Außerhalb der Bibliothek
keine Spur von ihm. Ich denke an die Eichen, die das Gestrüpp eines Auen¬
waldes niederdeutschen Flachlandes in stillem Stolz übertürmen, und unwill¬
kürlich wächst Lessings Denkmal von Rietschcls Meisterhand in den Braun¬
schweigischen Anlagen, eines der schönsten Dichterdenkmäler der Welt, in meiner
Erinnerung angesichts Wolfenbüttels empor.

Man hat uns als Ort beschaulicher Ruhe zum Rasten von eindrucksreicher
Ausflügen die anhaltische Sommerresidenz Ballenstedt empfohlen. Vallenstedt
ist aber vom Bahnhof her eine der häßlichsten, kleinlichsten Städte, die man
sich vorstellen kann, und entwickelt sich erst auf der entgegengesetzten Seite nach
Westen zu einer reizenden Residenzstadt mit Hoflieferanten, Piauofortelager,
Hofbuchhandlung, Wiener Cafe. Die einen Kilometer lange Allee zum Schlo߬
garten giebt dem Ganzen sogar eine gewisse Größe. Und wenn man oben an¬
gekommen ist, steht man einem Riesenbau gegenüber, der den einfachen Namen
trägt Großer Gasthof. Vor ihm spielt an den Abenden eine gar nicht üble
Musik, aber die laues ?olL6 von Ballenstedt hält es uicht für guten Ton,
zuzuhören. Einige Gymnasiasten und Dienstmädchen sind die einzigen, die der
ganz guten Musik ihr Ohr leihen. Herren, die die Distinktion darin suchen,
daß sie ein Glas in die Augenhöhle klemmen und nach dem Parfüm ihrer
Frau riechen, zum Hof gehörig oder pensionierte Generale, gehn laut sprechend
auf und ab, verhandeln aber beim Schall der Musik keine Harz-anhaltischen
Staatsangelegenheiten, sondern den Erwerb eines nahen Grundstücks durch
einen Gärtner.

Der beste Teil einer solchen Residenz ist immer der Schloßgarten. Deutsch¬
land weiß gar nicht, welchen Segen es in seinen vielen Hunderten von Schloß-


Grenzbotm III 1839 76
Briefe eines Zurückgekehrten

daß der Kaiser vollauf Recht hatte, als er gerade an den Betrieb des Geschichts¬
unterrichts an deutschen Schulen die bessernde Hand legen wollte. Der Deutsche,
der die Geschichte seines Volks vernachlässigt, kommt mir wie ein Mann vor,
der statt des edeln alten Weins, den er im Keller hat, Krätzer trinkt.

Wir haben zum Schluß Wolfenbüttel besucht, die Stadt Lessings. Wie klein
ist hier das achtzehnte Jahrhundert in seinen Denkmälern. In Wolfenbüttel
ist wohl die alte Bibliothek Lessings erneuert, und auch sonst sind manche Häuser
nen errichtet oder aufgesetzt worden. Aber es ist doch im ganzen immer nur
ein kleiner, enger, holpriger Eindruck, den das Städtchen macht. Gemütlich,
aber beschränkt. Das kleine Haus gegenüber der Bibliothek, wo Lessing ge¬
wohnt hat, paßt in diese alte Stadt hinein. Es besteht nur aus Erdgeschoß,
aber seine Zimmer sind geräumig, und ihre zopfige Ausschmückung ist nicht
ungefällig. Und auf Lessings Tisch hat wohl dasselbe Grün hereingeleuchtet,
das heute diese Oase in der Wüste des Schloßplatzes so freundlich macht. Das
erleichtert uns. Aber immerhin erhält man von der isolierten Hohe, auf der
el» Gcistesheld steht, so recht einen Begriff, wenn man die Spurlosigkeit des
Wirkens eines Lessing in Wolfenbüttel bemerkt. Außerhalb der Bibliothek
keine Spur von ihm. Ich denke an die Eichen, die das Gestrüpp eines Auen¬
waldes niederdeutschen Flachlandes in stillem Stolz übertürmen, und unwill¬
kürlich wächst Lessings Denkmal von Rietschcls Meisterhand in den Braun¬
schweigischen Anlagen, eines der schönsten Dichterdenkmäler der Welt, in meiner
Erinnerung angesichts Wolfenbüttels empor.

Man hat uns als Ort beschaulicher Ruhe zum Rasten von eindrucksreicher
Ausflügen die anhaltische Sommerresidenz Ballenstedt empfohlen. Vallenstedt
ist aber vom Bahnhof her eine der häßlichsten, kleinlichsten Städte, die man
sich vorstellen kann, und entwickelt sich erst auf der entgegengesetzten Seite nach
Westen zu einer reizenden Residenzstadt mit Hoflieferanten, Piauofortelager,
Hofbuchhandlung, Wiener Cafe. Die einen Kilometer lange Allee zum Schlo߬
garten giebt dem Ganzen sogar eine gewisse Größe. Und wenn man oben an¬
gekommen ist, steht man einem Riesenbau gegenüber, der den einfachen Namen
trägt Großer Gasthof. Vor ihm spielt an den Abenden eine gar nicht üble
Musik, aber die laues ?olL6 von Ballenstedt hält es uicht für guten Ton,
zuzuhören. Einige Gymnasiasten und Dienstmädchen sind die einzigen, die der
ganz guten Musik ihr Ohr leihen. Herren, die die Distinktion darin suchen,
daß sie ein Glas in die Augenhöhle klemmen und nach dem Parfüm ihrer
Frau riechen, zum Hof gehörig oder pensionierte Generale, gehn laut sprechend
auf und ab, verhandeln aber beim Schall der Musik keine Harz-anhaltischen
Staatsangelegenheiten, sondern den Erwerb eines nahen Grundstücks durch
einen Gärtner.

Der beste Teil einer solchen Residenz ist immer der Schloßgarten. Deutsch¬
land weiß gar nicht, welchen Segen es in seinen vielen Hunderten von Schloß-


Grenzbotm III 1839 76
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[0609] Briefe eines Zurückgekehrten daß der Kaiser vollauf Recht hatte, als er gerade an den Betrieb des Geschichts¬ unterrichts an deutschen Schulen die bessernde Hand legen wollte. Der Deutsche, der die Geschichte seines Volks vernachlässigt, kommt mir wie ein Mann vor, der statt des edeln alten Weins, den er im Keller hat, Krätzer trinkt. Wir haben zum Schluß Wolfenbüttel besucht, die Stadt Lessings. Wie klein ist hier das achtzehnte Jahrhundert in seinen Denkmälern. In Wolfenbüttel ist wohl die alte Bibliothek Lessings erneuert, und auch sonst sind manche Häuser nen errichtet oder aufgesetzt worden. Aber es ist doch im ganzen immer nur ein kleiner, enger, holpriger Eindruck, den das Städtchen macht. Gemütlich, aber beschränkt. Das kleine Haus gegenüber der Bibliothek, wo Lessing ge¬ wohnt hat, paßt in diese alte Stadt hinein. Es besteht nur aus Erdgeschoß, aber seine Zimmer sind geräumig, und ihre zopfige Ausschmückung ist nicht ungefällig. Und auf Lessings Tisch hat wohl dasselbe Grün hereingeleuchtet, das heute diese Oase in der Wüste des Schloßplatzes so freundlich macht. Das erleichtert uns. Aber immerhin erhält man von der isolierten Hohe, auf der el» Gcistesheld steht, so recht einen Begriff, wenn man die Spurlosigkeit des Wirkens eines Lessing in Wolfenbüttel bemerkt. Außerhalb der Bibliothek keine Spur von ihm. Ich denke an die Eichen, die das Gestrüpp eines Auen¬ waldes niederdeutschen Flachlandes in stillem Stolz übertürmen, und unwill¬ kürlich wächst Lessings Denkmal von Rietschcls Meisterhand in den Braun¬ schweigischen Anlagen, eines der schönsten Dichterdenkmäler der Welt, in meiner Erinnerung angesichts Wolfenbüttels empor. Man hat uns als Ort beschaulicher Ruhe zum Rasten von eindrucksreicher Ausflügen die anhaltische Sommerresidenz Ballenstedt empfohlen. Vallenstedt ist aber vom Bahnhof her eine der häßlichsten, kleinlichsten Städte, die man sich vorstellen kann, und entwickelt sich erst auf der entgegengesetzten Seite nach Westen zu einer reizenden Residenzstadt mit Hoflieferanten, Piauofortelager, Hofbuchhandlung, Wiener Cafe. Die einen Kilometer lange Allee zum Schlo߬ garten giebt dem Ganzen sogar eine gewisse Größe. Und wenn man oben an¬ gekommen ist, steht man einem Riesenbau gegenüber, der den einfachen Namen trägt Großer Gasthof. Vor ihm spielt an den Abenden eine gar nicht üble Musik, aber die laues ?olL6 von Ballenstedt hält es uicht für guten Ton, zuzuhören. Einige Gymnasiasten und Dienstmädchen sind die einzigen, die der ganz guten Musik ihr Ohr leihen. Herren, die die Distinktion darin suchen, daß sie ein Glas in die Augenhöhle klemmen und nach dem Parfüm ihrer Frau riechen, zum Hof gehörig oder pensionierte Generale, gehn laut sprechend auf und ab, verhandeln aber beim Schall der Musik keine Harz-anhaltischen Staatsangelegenheiten, sondern den Erwerb eines nahen Grundstücks durch einen Gärtner. Der beste Teil einer solchen Residenz ist immer der Schloßgarten. Deutsch¬ land weiß gar nicht, welchen Segen es in seinen vielen Hunderten von Schloß- Grenzbotm III 1839 76

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/609>, abgerufen am 15.01.2025.