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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

Herren "Chefs" und auch das Reichsjustizamt sind gar nicht mehr imstande,
die kriminalistische Mangelhaftigkeit der Gesetzentwürfe gehörig auszumerzen,
und die parlamentarische Behandlung hat sie in der Regel trotz aller rabu¬
listischen Kritik, die sie übte, eher vermehrt als verringert. So ist es ja ge¬
kommen, daß, wie vor kurzem ein deutscher Kriminalist gesagt hat, der deutsche
Richter, wenigstens der Strafrichter, zum Prügelknaben einer schlechten Gesetz¬
gebung geworden ist. Ju den Grenzboten ist das Lied oft genug, manchmal
auch in etwas falscher Tonart gesungen worden, und der Reichstag hat vom
19. bis 20. Juni gleichfalls davon wiedergehallt. Auch die Herren "Chefs"
der Reichsämter selbst haben den gesetzgebungstechnischen Kunstverstand ihrer
Gesetzentwerfer dabei in fast verblüffender Ehrlichkeit und Einstimmigkeit preis¬
gegeben und nur die "Grundsatze" vertreten. Daß sie sich dazu gezwungen
sahen, war sür sie sehr fatal, sollte ihnen zur Lehre dienen und nach unten
nachwirken. Leider war es den Sprechern und Schreiern der Opposition,
die Eindruck auf die Massen machen wollten, umso angenehmer. Den Grenz¬
botenlesern gegenüber kann man sich in der hier behandelten Frage ohne Schaden
auf die Grundsätze beschränken. Bei ihnen muß das Verständnis dafür voraus¬
gesetzt werden, daß es zur Widerlegung der Geschichtsfälschuug, die zu be¬
kämpfen ist, allein auf die Grundsätze, d. h. den gesetzgeberischen Willen, den
der Entwurf verwirklichen soll, ankommt. Die Kritik der kriminalistischen Gesetz¬
gebungstechnik kommt fortan hier nicht mehr in Betracht.

Von um so höherer Bedeutung ist es für die zu erörternde Frage, daß
-- was ja auch in der Begründung des Gesetzentwurfs und von den Regie¬
rungsvertretern in den Neichstagsverhandlungen hervorgehoben worden ist --
schon 1891 in dem Entwurf der großen Arbeiterschutznovelle zur Gewerbe¬
ordnung die Erweiterung und Verschärfung der Bestimmungen des § 153, die
jetzt in dem neuen Gesetzentwurf zum Schutz der Arbeitswilligen vorgesehen
ist, von den verbündeten Regierungen in der Hauptsache und den Grundsätzen
nach vorgeschlagen war und im Reichstage nachdrücklichst befürwortet wurde.
Es war das die epochemachende gesetzgeberische Leistung des sogenannten "neuen
Kurses," und es war der "Minister der Sozialreform," Freiherr von Ber-
lepsch, selbst, der damals den gesetzgeberischen Willen, den man heute als un¬
erhörtes Attentat auf das gute Recht und die Wohlfahrt der Arbeiter hinstellt,
mit aller Entschiedenheit vertrat. Es ist begreiflich, daß die Anwälte der
Fronde gegen den angeblichen "neusten Kurs" die Bedeutung dieser Thatsache
zu vertuschen und zu verdunkeln suchen. Schon deshalb ist es nötig, den
neuen Entwurf im Zusammenhang mit den Vorgängen von 1891 genau zu
betrachten.

Der von Herrn von Berlepsch befürwortete Z 153 hatte folgenden Wortlaut:

Wer es unternimmt, durch Anwendung körperlichen Zwangs, durch Drohungen,
durch Ehrverletzung oder durch Verrnfserklärung


Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

Herren „Chefs" und auch das Reichsjustizamt sind gar nicht mehr imstande,
die kriminalistische Mangelhaftigkeit der Gesetzentwürfe gehörig auszumerzen,
und die parlamentarische Behandlung hat sie in der Regel trotz aller rabu¬
listischen Kritik, die sie übte, eher vermehrt als verringert. So ist es ja ge¬
kommen, daß, wie vor kurzem ein deutscher Kriminalist gesagt hat, der deutsche
Richter, wenigstens der Strafrichter, zum Prügelknaben einer schlechten Gesetz¬
gebung geworden ist. Ju den Grenzboten ist das Lied oft genug, manchmal
auch in etwas falscher Tonart gesungen worden, und der Reichstag hat vom
19. bis 20. Juni gleichfalls davon wiedergehallt. Auch die Herren „Chefs"
der Reichsämter selbst haben den gesetzgebungstechnischen Kunstverstand ihrer
Gesetzentwerfer dabei in fast verblüffender Ehrlichkeit und Einstimmigkeit preis¬
gegeben und nur die „Grundsatze" vertreten. Daß sie sich dazu gezwungen
sahen, war sür sie sehr fatal, sollte ihnen zur Lehre dienen und nach unten
nachwirken. Leider war es den Sprechern und Schreiern der Opposition,
die Eindruck auf die Massen machen wollten, umso angenehmer. Den Grenz¬
botenlesern gegenüber kann man sich in der hier behandelten Frage ohne Schaden
auf die Grundsätze beschränken. Bei ihnen muß das Verständnis dafür voraus¬
gesetzt werden, daß es zur Widerlegung der Geschichtsfälschuug, die zu be¬
kämpfen ist, allein auf die Grundsätze, d. h. den gesetzgeberischen Willen, den
der Entwurf verwirklichen soll, ankommt. Die Kritik der kriminalistischen Gesetz¬
gebungstechnik kommt fortan hier nicht mehr in Betracht.

Von um so höherer Bedeutung ist es für die zu erörternde Frage, daß
— was ja auch in der Begründung des Gesetzentwurfs und von den Regie¬
rungsvertretern in den Neichstagsverhandlungen hervorgehoben worden ist —
schon 1891 in dem Entwurf der großen Arbeiterschutznovelle zur Gewerbe¬
ordnung die Erweiterung und Verschärfung der Bestimmungen des § 153, die
jetzt in dem neuen Gesetzentwurf zum Schutz der Arbeitswilligen vorgesehen
ist, von den verbündeten Regierungen in der Hauptsache und den Grundsätzen
nach vorgeschlagen war und im Reichstage nachdrücklichst befürwortet wurde.
Es war das die epochemachende gesetzgeberische Leistung des sogenannten „neuen
Kurses," und es war der „Minister der Sozialreform," Freiherr von Ber-
lepsch, selbst, der damals den gesetzgeberischen Willen, den man heute als un¬
erhörtes Attentat auf das gute Recht und die Wohlfahrt der Arbeiter hinstellt,
mit aller Entschiedenheit vertrat. Es ist begreiflich, daß die Anwälte der
Fronde gegen den angeblichen „neusten Kurs" die Bedeutung dieser Thatsache
zu vertuschen und zu verdunkeln suchen. Schon deshalb ist es nötig, den
neuen Entwurf im Zusammenhang mit den Vorgängen von 1891 genau zu
betrachten.

Der von Herrn von Berlepsch befürwortete Z 153 hatte folgenden Wortlaut:

Wer es unternimmt, durch Anwendung körperlichen Zwangs, durch Drohungen,
durch Ehrverletzung oder durch Verrnfserklärung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/60>, abgerufen am 15.01.2025.