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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert

beide höchsten Behörden gewöhnlich gerade so viel Autorität, als die Persön¬
lichkeiten verdienen, aus denen sie jeweilen bestellt sind, und kontrollieren sich
dadurch beständig ganz von selber."

Die Wandlung zum Einheitsstaate sei in keinem Bundesstaate weniger zu
fürchten als in der Schweiz. "Nicht nur widerspricht einer solchen Tendenz,
die auch nur bei wenigen extremen Geistern vorhanden ist, ganz entschieden
die sechshnndertjährige, nur auf die kurze Zeit von fünf Jahren, mit fremder
Hilfe, unterbrochne Geschichte, sondern auch die Natur des Landes und Volkes.
Es ist nicht denkbar, daß man große Städte und einfache, beinahe altvüterische
Länder, sowie industrielle Bevölkerungen mit allen Ideen und Aspirationen
moderner Arbeiterkreise und Gebirgsbewohner mit alpiner Thätigkeit auf die
gleiche Weise und mit den gleichen Mitteln regieren könne, am wenigsten aber,
daß sie selber dazu die Hand bieten, und jede Majorisierung in den Gebieten,
mit denen der gemeine Mann alltäglich in Berührung kommt, oder für die er
erhebliche Opfer bringen soll, muß in kurzem eine Unzufriedenheit erzeugen,
welcher keine republikanische Regierung entfernt gewachsen ist. Man wird es
daher dem schweizerischen Volke stets überlassen müssen, sich in kleinern Kreisen
nach seiner besondern Art und seinen Bedürfnissen gemäß einzurichten und
einen Gesamtstaat bloß als das Mittel zu betrachten, auch solchen kleinen
Volkskreisen eine selbständige Existenz in Europa zu garantieren. Das ist
überhaupt der Zweck eines jeden Bundesstaates und der Grund, weshalb sich
diese komplizierte und schwerfällige Staatsform einer steigenden Beliebtheit
erfreut. Denn der Mensch will nicht nur eine gewisse Größe und Weite, er
will auch Kleinheit, selbst Engheit und befindet sich darin so wohl, daß er
nach dem schönen Worte Schillers stets wieder zu seiner Jugend Hütten, zu
seinem einfachen Glück und zur Natur zurückkehrt, von der er sich vielleicht
eine Zeit lang in dem Drang nach Expansion entfernt hat."

Was den Schweizern fehle, das sei, nach dem Verzicht auf auswärtigen
Kriegsdienst, das heroische Element. Es bleibe ihnen nur eine Art von
Heroismus übrig: Aufopferung für die Schwachen und Gedruckten. "Darin
sind eigentlich in der Schweiz alle politischen, kirchlichen und sozialen Rich¬
tungen einig." Ihre Selbständigkeit zu verlieren, werde die Schweiz nicht
leicht in Gefahr kommen, wenn sie fortfahre, durch den Geist zu ersetzen, was
ihr an physischen Machtmitteln abgebe. "Die bloße Kleinstaaterei, ohne Geist
und Originalität, ist in einer Zeit, wo sich die Völker außerordentlich viel
näher getreten sind, zum Aussterben verurteilt. Dagegen haben die Klein¬
staaten mit Geist und Kraft und auf gesunder historischer Basis beruhend,
nach unserm Dafürhalten die Zukunft für sich, sobald eine gewisse Liquidation
von antiquierten Zuständen, worin wir uns befinden, vorüber ist. Dann, in
einer friedlichem und^bessern^Ära als der jetzigen, sind kleine, historisch-natür¬
liche, durch bundesstaatliche oder völkerrechtliche Verbindungen vereinigte und


Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert

beide höchsten Behörden gewöhnlich gerade so viel Autorität, als die Persön¬
lichkeiten verdienen, aus denen sie jeweilen bestellt sind, und kontrollieren sich
dadurch beständig ganz von selber."

Die Wandlung zum Einheitsstaate sei in keinem Bundesstaate weniger zu
fürchten als in der Schweiz. „Nicht nur widerspricht einer solchen Tendenz,
die auch nur bei wenigen extremen Geistern vorhanden ist, ganz entschieden
die sechshnndertjährige, nur auf die kurze Zeit von fünf Jahren, mit fremder
Hilfe, unterbrochne Geschichte, sondern auch die Natur des Landes und Volkes.
Es ist nicht denkbar, daß man große Städte und einfache, beinahe altvüterische
Länder, sowie industrielle Bevölkerungen mit allen Ideen und Aspirationen
moderner Arbeiterkreise und Gebirgsbewohner mit alpiner Thätigkeit auf die
gleiche Weise und mit den gleichen Mitteln regieren könne, am wenigsten aber,
daß sie selber dazu die Hand bieten, und jede Majorisierung in den Gebieten,
mit denen der gemeine Mann alltäglich in Berührung kommt, oder für die er
erhebliche Opfer bringen soll, muß in kurzem eine Unzufriedenheit erzeugen,
welcher keine republikanische Regierung entfernt gewachsen ist. Man wird es
daher dem schweizerischen Volke stets überlassen müssen, sich in kleinern Kreisen
nach seiner besondern Art und seinen Bedürfnissen gemäß einzurichten und
einen Gesamtstaat bloß als das Mittel zu betrachten, auch solchen kleinen
Volkskreisen eine selbständige Existenz in Europa zu garantieren. Das ist
überhaupt der Zweck eines jeden Bundesstaates und der Grund, weshalb sich
diese komplizierte und schwerfällige Staatsform einer steigenden Beliebtheit
erfreut. Denn der Mensch will nicht nur eine gewisse Größe und Weite, er
will auch Kleinheit, selbst Engheit und befindet sich darin so wohl, daß er
nach dem schönen Worte Schillers stets wieder zu seiner Jugend Hütten, zu
seinem einfachen Glück und zur Natur zurückkehrt, von der er sich vielleicht
eine Zeit lang in dem Drang nach Expansion entfernt hat."

Was den Schweizern fehle, das sei, nach dem Verzicht auf auswärtigen
Kriegsdienst, das heroische Element. Es bleibe ihnen nur eine Art von
Heroismus übrig: Aufopferung für die Schwachen und Gedruckten. „Darin
sind eigentlich in der Schweiz alle politischen, kirchlichen und sozialen Rich¬
tungen einig." Ihre Selbständigkeit zu verlieren, werde die Schweiz nicht
leicht in Gefahr kommen, wenn sie fortfahre, durch den Geist zu ersetzen, was
ihr an physischen Machtmitteln abgebe. „Die bloße Kleinstaaterei, ohne Geist
und Originalität, ist in einer Zeit, wo sich die Völker außerordentlich viel
näher getreten sind, zum Aussterben verurteilt. Dagegen haben die Klein¬
staaten mit Geist und Kraft und auf gesunder historischer Basis beruhend,
nach unserm Dafürhalten die Zukunft für sich, sobald eine gewisse Liquidation
von antiquierten Zuständen, worin wir uns befinden, vorüber ist. Dann, in
einer friedlichem und^bessern^Ära als der jetzigen, sind kleine, historisch-natür¬
liche, durch bundesstaatliche oder völkerrechtliche Verbindungen vereinigte und


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[0598] Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert beide höchsten Behörden gewöhnlich gerade so viel Autorität, als die Persön¬ lichkeiten verdienen, aus denen sie jeweilen bestellt sind, und kontrollieren sich dadurch beständig ganz von selber." Die Wandlung zum Einheitsstaate sei in keinem Bundesstaate weniger zu fürchten als in der Schweiz. „Nicht nur widerspricht einer solchen Tendenz, die auch nur bei wenigen extremen Geistern vorhanden ist, ganz entschieden die sechshnndertjährige, nur auf die kurze Zeit von fünf Jahren, mit fremder Hilfe, unterbrochne Geschichte, sondern auch die Natur des Landes und Volkes. Es ist nicht denkbar, daß man große Städte und einfache, beinahe altvüterische Länder, sowie industrielle Bevölkerungen mit allen Ideen und Aspirationen moderner Arbeiterkreise und Gebirgsbewohner mit alpiner Thätigkeit auf die gleiche Weise und mit den gleichen Mitteln regieren könne, am wenigsten aber, daß sie selber dazu die Hand bieten, und jede Majorisierung in den Gebieten, mit denen der gemeine Mann alltäglich in Berührung kommt, oder für die er erhebliche Opfer bringen soll, muß in kurzem eine Unzufriedenheit erzeugen, welcher keine republikanische Regierung entfernt gewachsen ist. Man wird es daher dem schweizerischen Volke stets überlassen müssen, sich in kleinern Kreisen nach seiner besondern Art und seinen Bedürfnissen gemäß einzurichten und einen Gesamtstaat bloß als das Mittel zu betrachten, auch solchen kleinen Volkskreisen eine selbständige Existenz in Europa zu garantieren. Das ist überhaupt der Zweck eines jeden Bundesstaates und der Grund, weshalb sich diese komplizierte und schwerfällige Staatsform einer steigenden Beliebtheit erfreut. Denn der Mensch will nicht nur eine gewisse Größe und Weite, er will auch Kleinheit, selbst Engheit und befindet sich darin so wohl, daß er nach dem schönen Worte Schillers stets wieder zu seiner Jugend Hütten, zu seinem einfachen Glück und zur Natur zurückkehrt, von der er sich vielleicht eine Zeit lang in dem Drang nach Expansion entfernt hat." Was den Schweizern fehle, das sei, nach dem Verzicht auf auswärtigen Kriegsdienst, das heroische Element. Es bleibe ihnen nur eine Art von Heroismus übrig: Aufopferung für die Schwachen und Gedruckten. „Darin sind eigentlich in der Schweiz alle politischen, kirchlichen und sozialen Rich¬ tungen einig." Ihre Selbständigkeit zu verlieren, werde die Schweiz nicht leicht in Gefahr kommen, wenn sie fortfahre, durch den Geist zu ersetzen, was ihr an physischen Machtmitteln abgebe. „Die bloße Kleinstaaterei, ohne Geist und Originalität, ist in einer Zeit, wo sich die Völker außerordentlich viel näher getreten sind, zum Aussterben verurteilt. Dagegen haben die Klein¬ staaten mit Geist und Kraft und auf gesunder historischer Basis beruhend, nach unserm Dafürhalten die Zukunft für sich, sobald eine gewisse Liquidation von antiquierten Zuständen, worin wir uns befinden, vorüber ist. Dann, in einer friedlichem und^bessern^Ära als der jetzigen, sind kleine, historisch-natür¬ liche, durch bundesstaatliche oder völkerrechtliche Verbindungen vereinigte und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/598>, abgerufen am 15.01.2025.