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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert

wcir nur das Vogteienwesen. Die Dörfer und Landschaften, die Vogteien ge¬
nannt wurden, waren Eigentum eines ländlichen Kantons oder einer Stadt,
oder auch mehrerer Kantone oder Städte, und wurden von ihren kleinen Herren¬
staaten regiert und ausgebeutet, wie vormals die Provinzen des römischen
Reichs von der Stadtgemeinde Rom. Daß ein Volk oder ein Land einem
Despoten gehört, eine Bauerngemeinde einem Gutsherrn, der aus einer ganz
andern Gesellschaftsschicht stammt als seine Bauern, vielleicht sogar von ganz
andrer Nasse ist, das läßt sich sowohl rechtfertigen als ertragen, aber die Be¬
herrschung eines Volks durch ein andres, als Freistaat organisiertes Volk ist
das allerunhaltbarste Verhältnis; doppelt unhaltbar, wenn Herrscher und Be¬
herrschte desselben Stammes und sogar Verufsgenossen, Bürger und Bauern
sind; wozu in der Schweiz noch die Ungeheuerlichkeit kam, daß manche Vogtei
bis zwölf solche sonderbaren Herren hatte. Diesem Zustande gegenüber hatte
Napoleon recht mit seinem Worte: "Ein Volk kann keines Volks Unterthan
sein, ohne daß dadurch die Grundsätze des öffentlichen und natürlichen Rechts
verletzt werden." Wenn dann noch den Schweizern des vorigen Jahrhunderts,
namentlich den Unterthanen, ihr Widerstreben gegen alle Neuerungen und Ver¬
besserungen, ihre "unbegreifliche Pietät für die veralteten politischen Formen"
vorgeworfen wird, so sehen wir darin wiederum mehr einen Vorzug als ein
Gebrechen ihres Nationalcharakters. Es ist dieselbe Eigentümlichkeit, der Eng¬
land die Stetigkeit seiner seit dritthalb Jahrhunderten von blutigen Katastrophe"
freien innern Entwicklung verdankt, die eine der Grundlagen seiner Größe ist.
Das Neue, auch wenn es unvermeidlich kommt, ist ebenso wenig durchaus gut
wie das Alte, und das Widerstreben eines gesunden Volksorgcmismns dagegen
verbürgt die rechte Art der Aufnahme, die Ausnahme des Neuen uur so weit,
als es der Volkskörper ohne Schaden für seine Gesundheit verdauen kann.
Völker, die kein kräftiges bewußtes Eigenleben haben, geben sich neuen Ideen
widerstandslos hin, wie das russische, das unmittelbar aus dem blinden Ge¬
horsam und Autoritätsglauben in den Nihilismus hineingeplumpst ist.

Wie die französische Invasion das unhaltbare Alte weggespült, und wie
sich dann unter Einwirkungen von anßen und heftigen innern Kämpfen die
heutige Verfassung entwickelt hat, erzählt der "alt Vundesprüsident" Numa
Droz im zweiten "Politische Geschichte" überschriebnen Abschnitt. Schon vor
siebzig Jahren hat der Verfasser einer Geschichte der Deutschen behauptet: daß
die Geschichte Griechenlands in Hellem Glänze strahle, während die des deutschen
Mittelalters in Dunkel gehüllt sei, habe jene nicht ihrem höhern innern Werte
zu verdanken, sondern lediglich dem Umstände, daß Geschichtschreiber und Dichter
ersten Ranges die Gestalten der großen Männer ihres Volks lebenswahr ge¬
malt und ihre Thaten in klassischer Sprache dargestellt hätten, den Deutschen
aber dieses Glück nicht zu teil geworden sei. Es kommt doch aber noch etwas
andres hinzu, was uns an dem Dunkel dieser nicht mittelalterlichen, sondern
modernen Schweizer Geschichte klar wird. Sie wird nämlich höchst wahr-


Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert

wcir nur das Vogteienwesen. Die Dörfer und Landschaften, die Vogteien ge¬
nannt wurden, waren Eigentum eines ländlichen Kantons oder einer Stadt,
oder auch mehrerer Kantone oder Städte, und wurden von ihren kleinen Herren¬
staaten regiert und ausgebeutet, wie vormals die Provinzen des römischen
Reichs von der Stadtgemeinde Rom. Daß ein Volk oder ein Land einem
Despoten gehört, eine Bauerngemeinde einem Gutsherrn, der aus einer ganz
andern Gesellschaftsschicht stammt als seine Bauern, vielleicht sogar von ganz
andrer Nasse ist, das läßt sich sowohl rechtfertigen als ertragen, aber die Be¬
herrschung eines Volks durch ein andres, als Freistaat organisiertes Volk ist
das allerunhaltbarste Verhältnis; doppelt unhaltbar, wenn Herrscher und Be¬
herrschte desselben Stammes und sogar Verufsgenossen, Bürger und Bauern
sind; wozu in der Schweiz noch die Ungeheuerlichkeit kam, daß manche Vogtei
bis zwölf solche sonderbaren Herren hatte. Diesem Zustande gegenüber hatte
Napoleon recht mit seinem Worte: „Ein Volk kann keines Volks Unterthan
sein, ohne daß dadurch die Grundsätze des öffentlichen und natürlichen Rechts
verletzt werden." Wenn dann noch den Schweizern des vorigen Jahrhunderts,
namentlich den Unterthanen, ihr Widerstreben gegen alle Neuerungen und Ver¬
besserungen, ihre „unbegreifliche Pietät für die veralteten politischen Formen"
vorgeworfen wird, so sehen wir darin wiederum mehr einen Vorzug als ein
Gebrechen ihres Nationalcharakters. Es ist dieselbe Eigentümlichkeit, der Eng¬
land die Stetigkeit seiner seit dritthalb Jahrhunderten von blutigen Katastrophe»
freien innern Entwicklung verdankt, die eine der Grundlagen seiner Größe ist.
Das Neue, auch wenn es unvermeidlich kommt, ist ebenso wenig durchaus gut
wie das Alte, und das Widerstreben eines gesunden Volksorgcmismns dagegen
verbürgt die rechte Art der Aufnahme, die Ausnahme des Neuen uur so weit,
als es der Volkskörper ohne Schaden für seine Gesundheit verdauen kann.
Völker, die kein kräftiges bewußtes Eigenleben haben, geben sich neuen Ideen
widerstandslos hin, wie das russische, das unmittelbar aus dem blinden Ge¬
horsam und Autoritätsglauben in den Nihilismus hineingeplumpst ist.

Wie die französische Invasion das unhaltbare Alte weggespült, und wie
sich dann unter Einwirkungen von anßen und heftigen innern Kämpfen die
heutige Verfassung entwickelt hat, erzählt der „alt Vundesprüsident" Numa
Droz im zweiten „Politische Geschichte" überschriebnen Abschnitt. Schon vor
siebzig Jahren hat der Verfasser einer Geschichte der Deutschen behauptet: daß
die Geschichte Griechenlands in Hellem Glänze strahle, während die des deutschen
Mittelalters in Dunkel gehüllt sei, habe jene nicht ihrem höhern innern Werte
zu verdanken, sondern lediglich dem Umstände, daß Geschichtschreiber und Dichter
ersten Ranges die Gestalten der großen Männer ihres Volks lebenswahr ge¬
malt und ihre Thaten in klassischer Sprache dargestellt hätten, den Deutschen
aber dieses Glück nicht zu teil geworden sei. Es kommt doch aber noch etwas
andres hinzu, was uns an dem Dunkel dieser nicht mittelalterlichen, sondern
modernen Schweizer Geschichte klar wird. Sie wird nämlich höchst wahr-


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[0592] Die Schweiz im neunzehnten Jahrhundert wcir nur das Vogteienwesen. Die Dörfer und Landschaften, die Vogteien ge¬ nannt wurden, waren Eigentum eines ländlichen Kantons oder einer Stadt, oder auch mehrerer Kantone oder Städte, und wurden von ihren kleinen Herren¬ staaten regiert und ausgebeutet, wie vormals die Provinzen des römischen Reichs von der Stadtgemeinde Rom. Daß ein Volk oder ein Land einem Despoten gehört, eine Bauerngemeinde einem Gutsherrn, der aus einer ganz andern Gesellschaftsschicht stammt als seine Bauern, vielleicht sogar von ganz andrer Nasse ist, das läßt sich sowohl rechtfertigen als ertragen, aber die Be¬ herrschung eines Volks durch ein andres, als Freistaat organisiertes Volk ist das allerunhaltbarste Verhältnis; doppelt unhaltbar, wenn Herrscher und Be¬ herrschte desselben Stammes und sogar Verufsgenossen, Bürger und Bauern sind; wozu in der Schweiz noch die Ungeheuerlichkeit kam, daß manche Vogtei bis zwölf solche sonderbaren Herren hatte. Diesem Zustande gegenüber hatte Napoleon recht mit seinem Worte: „Ein Volk kann keines Volks Unterthan sein, ohne daß dadurch die Grundsätze des öffentlichen und natürlichen Rechts verletzt werden." Wenn dann noch den Schweizern des vorigen Jahrhunderts, namentlich den Unterthanen, ihr Widerstreben gegen alle Neuerungen und Ver¬ besserungen, ihre „unbegreifliche Pietät für die veralteten politischen Formen" vorgeworfen wird, so sehen wir darin wiederum mehr einen Vorzug als ein Gebrechen ihres Nationalcharakters. Es ist dieselbe Eigentümlichkeit, der Eng¬ land die Stetigkeit seiner seit dritthalb Jahrhunderten von blutigen Katastrophe» freien innern Entwicklung verdankt, die eine der Grundlagen seiner Größe ist. Das Neue, auch wenn es unvermeidlich kommt, ist ebenso wenig durchaus gut wie das Alte, und das Widerstreben eines gesunden Volksorgcmismns dagegen verbürgt die rechte Art der Aufnahme, die Ausnahme des Neuen uur so weit, als es der Volkskörper ohne Schaden für seine Gesundheit verdauen kann. Völker, die kein kräftiges bewußtes Eigenleben haben, geben sich neuen Ideen widerstandslos hin, wie das russische, das unmittelbar aus dem blinden Ge¬ horsam und Autoritätsglauben in den Nihilismus hineingeplumpst ist. Wie die französische Invasion das unhaltbare Alte weggespült, und wie sich dann unter Einwirkungen von anßen und heftigen innern Kämpfen die heutige Verfassung entwickelt hat, erzählt der „alt Vundesprüsident" Numa Droz im zweiten „Politische Geschichte" überschriebnen Abschnitt. Schon vor siebzig Jahren hat der Verfasser einer Geschichte der Deutschen behauptet: daß die Geschichte Griechenlands in Hellem Glänze strahle, während die des deutschen Mittelalters in Dunkel gehüllt sei, habe jene nicht ihrem höhern innern Werte zu verdanken, sondern lediglich dem Umstände, daß Geschichtschreiber und Dichter ersten Ranges die Gestalten der großen Männer ihres Volks lebenswahr ge¬ malt und ihre Thaten in klassischer Sprache dargestellt hätten, den Deutschen aber dieses Glück nicht zu teil geworden sei. Es kommt doch aber noch etwas andres hinzu, was uns an dem Dunkel dieser nicht mittelalterlichen, sondern modernen Schweizer Geschichte klar wird. Sie wird nämlich höchst wahr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/592>, abgerufen am 15.01.2025.