Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.Briefe eines Zurückgekehrten und -- das Vereinsvermögen die Anker, um die das wracke Schifflein schwingt. Die Franzosen, viel weichere Naturen als Deutsche und Angelsachsen, ver¬ Unsre Landsleute blicken oft mitleidig auf die Amerikaner herab, die an Wären die Russen eine so leicht zu regierende, so leicht bis in den Tod Briefe eines Zurückgekehrten und — das Vereinsvermögen die Anker, um die das wracke Schifflein schwingt. Die Franzosen, viel weichere Naturen als Deutsche und Angelsachsen, ver¬ Unsre Landsleute blicken oft mitleidig auf die Amerikaner herab, die an Wären die Russen eine so leicht zu regierende, so leicht bis in den Tod <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0516" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231686"/> <fw type="header" place="top"> Briefe eines Zurückgekehrten</fw><lb/> <p xml:id="ID_1688" prev="#ID_1687"> und — das Vereinsvermögen die Anker, um die das wracke Schifflein schwingt.<lb/> Die Pflanze entwickelt ein silbernes Haarkleid, um sich gegen Vertrocknuug zu<lb/> schützen, die Schildkröte baut sich ihr knöchernes Haus und belegt es mit<lb/> herrlichen Hornplatten, um gegen Stöße geschützt zu sein, der Deutsche schafft<lb/> sich seine Vereine, die er mit Wappen, Siegel und Fahnen ausstattet, um sich<lb/> selbst vor seinem Eigen- und Sonderwillen zu schützen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1689"> Die Franzosen, viel weichere Naturen als Deutsche und Angelsachsen, ver¬<lb/> einigen sich als Einzelne leicht, verschmelzen gleichsam, fühlen aber nicht das<lb/> Bedürfnis der Organisation, wenn es nicht die vorübergehende einer Geselligkeit<lb/> ist, in der sie glänzen können. Dazu trägt auch die viel mächtigere Anziehung<lb/> bei, die auf sie das Weib ausübt. Deshalb sehen wir selbst im französischen<lb/> Studentenlebe» die Verbindungen und Vereinigungen Gleichstrebender zurück¬<lb/> treten, die jede deutsche Universität zu einem Wald von parkartigem Wachstum<lb/> machen, zu einer fröhlichen Anlage, in der zahllose kleine und große Gruppen<lb/> bunt neben einander auf demselben grünen Boden in die Höhe streben oder<lb/> auch in die Breite gehn. Dem Deutschen steht in dieser Beziehung der<lb/> Skandinavier am nächsten; diesem haben Charakter und Gewohnheiten besonders<lb/> im Nordwesten: Wisconsin, Minnesota, Dakota einen merkwürdigen Übergangs¬<lb/> platz zwischen Deutschen und Engländern angewiesen. Das gemeinsame Luthertum<lb/> trägt dazu etwas bei. Aber nur etwas. Der Hauptgrund liegt in einer ge¬<lb/> wissen Sympathie der Volksseele, besonders zwischen Deutschen und Schweden,<lb/> die beide das Leben leicht nehmen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1690"> Unsre Landsleute blicken oft mitleidig auf die Amerikaner herab, die an<lb/> Nervosität, Dyspepsie und andern Folgen der Überarbeit und unvernünftigen<lb/> Lebensweise leiden. Gewiß, der Amerikaner ist oft verschlossen, „spinnt" und<lb/> ist dann kein guter Gesellschafter. Aber was bedeutet das für das'Volk?<lb/> Was ein Volk aus seiner Gegenwart gewinnen kann und was nicht, darin<lb/> liegt für mich ein großer weltgeschichtlicher Unterschied. So wie es Einzelne<lb/> giebt, die sich aus jeder Lebenslage ein weiches Bett zu bereiten wissen,<lb/> während andre unter allen Umständen hart liegen, schwer träumen und ver¬<lb/> drossen aufstehn, um ihr Lager besser zu machen, bis es ganz gut ist, so ist<lb/> es auch mit den Völkern. Es ist die alte Beobachtung, für die Shakespeares<lb/> Cäsar die allgiltige Form gefunden hat:</p><lb/> <lg xml:id="POEMID_74" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_1691" next="#ID_1692"> Wären die Russen eine so leicht zu regierende, so leicht bis in den Tod<lb/> zu führende Masse, wenn nicht ihr „Allmenschtum," das uns verschwommen<lb/> vorkommt, sie molluskenhaft anpassungsfähig machte? Auch die Deutschen<lb/> erkauften jahrhundertelang individuelles Behagen mit Knechtung. Kein politisch</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0516]
Briefe eines Zurückgekehrten
und — das Vereinsvermögen die Anker, um die das wracke Schifflein schwingt.
Die Pflanze entwickelt ein silbernes Haarkleid, um sich gegen Vertrocknuug zu
schützen, die Schildkröte baut sich ihr knöchernes Haus und belegt es mit
herrlichen Hornplatten, um gegen Stöße geschützt zu sein, der Deutsche schafft
sich seine Vereine, die er mit Wappen, Siegel und Fahnen ausstattet, um sich
selbst vor seinem Eigen- und Sonderwillen zu schützen.
Die Franzosen, viel weichere Naturen als Deutsche und Angelsachsen, ver¬
einigen sich als Einzelne leicht, verschmelzen gleichsam, fühlen aber nicht das
Bedürfnis der Organisation, wenn es nicht die vorübergehende einer Geselligkeit
ist, in der sie glänzen können. Dazu trägt auch die viel mächtigere Anziehung
bei, die auf sie das Weib ausübt. Deshalb sehen wir selbst im französischen
Studentenlebe» die Verbindungen und Vereinigungen Gleichstrebender zurück¬
treten, die jede deutsche Universität zu einem Wald von parkartigem Wachstum
machen, zu einer fröhlichen Anlage, in der zahllose kleine und große Gruppen
bunt neben einander auf demselben grünen Boden in die Höhe streben oder
auch in die Breite gehn. Dem Deutschen steht in dieser Beziehung der
Skandinavier am nächsten; diesem haben Charakter und Gewohnheiten besonders
im Nordwesten: Wisconsin, Minnesota, Dakota einen merkwürdigen Übergangs¬
platz zwischen Deutschen und Engländern angewiesen. Das gemeinsame Luthertum
trägt dazu etwas bei. Aber nur etwas. Der Hauptgrund liegt in einer ge¬
wissen Sympathie der Volksseele, besonders zwischen Deutschen und Schweden,
die beide das Leben leicht nehmen.
Unsre Landsleute blicken oft mitleidig auf die Amerikaner herab, die an
Nervosität, Dyspepsie und andern Folgen der Überarbeit und unvernünftigen
Lebensweise leiden. Gewiß, der Amerikaner ist oft verschlossen, „spinnt" und
ist dann kein guter Gesellschafter. Aber was bedeutet das für das'Volk?
Was ein Volk aus seiner Gegenwart gewinnen kann und was nicht, darin
liegt für mich ein großer weltgeschichtlicher Unterschied. So wie es Einzelne
giebt, die sich aus jeder Lebenslage ein weiches Bett zu bereiten wissen,
während andre unter allen Umständen hart liegen, schwer träumen und ver¬
drossen aufstehn, um ihr Lager besser zu machen, bis es ganz gut ist, so ist
es auch mit den Völkern. Es ist die alte Beobachtung, für die Shakespeares
Cäsar die allgiltige Form gefunden hat:
Wären die Russen eine so leicht zu regierende, so leicht bis in den Tod
zu führende Masse, wenn nicht ihr „Allmenschtum," das uns verschwommen
vorkommt, sie molluskenhaft anpassungsfähig machte? Auch die Deutschen
erkauften jahrhundertelang individuelles Behagen mit Knechtung. Kein politisch
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