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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Briefe eines Zurückgekehrten

So wurzelfest vermochten sie mit diesen Hilfsmitteln ihre Kultur in den euro¬
päischen Boden zu senken, daß diese Kultur unter den Stürmen der Völker¬
wanderung fortvegetierte und nachdem diese ausgetobt hatten, kräftig wieder
ausschlug. Vom römischen Ackerbau in Gallien ist der fränkische, von diesem
aller europäische Ackerbau ausgegangen, und im italienischen Handwerk, in der
italienischen Kunst wurzelt alles, was wir von Gewerbe und Kunst heute be¬
sitzen. Die sozialen Kämpfe Roms haben also in der Hauptsache ihren Zweck
erfüllt. Für den, der in der Weltgeschichte das Weltgericht sehen will, bleiben
die ungetröfteten Leiden der antiken Sklavenschaft und die an ihr begangnen
ungesühnten Verbrechen unerklärt, für eine teleologische Geschichtsauffassung
dagegen bedeutet diese düstere Seite der alten Welt kein Geheimnis.




Briefe eines Zurückgekehrten
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me Dampferfahrt von ein paar Tagen giebt ausgezeichnete Ge¬
legenheiten zu vergleichenden Völkerstudien. Der seltsame Zu¬
stand einer im Bauche eiuer großen Stahlhülse ins weite Meer
hinansschwimmenden Menge von Menschen jedes Alters, Berufs
und Herkommens bringt merkwürdige Schichtungen und Gruppie¬
rungen hervor. Anziehungen und Abstoßungen bewegen die einen zu und von
einander. Andre verhalten sich vollkommen gleichgiltig und sinken wie unlös¬
liche Körper, die sich aus einer Flüssigkeit aussondern, langsam in stillere


lung unverträglich, aber auf manchen Bildungsstufen -- ganz abgesehen von der Nassenanlnge
und den daher rührenden verwickelten politischen und sozialen Problemen -- ist sie ein natür¬
liches, unter Umstünden sogar wohlthätiges Institut. Sie bestand auch bei den Barbaren, die
dein antiken Leben ein Ende machten; sie wahrte in den: romanisch-germanischen Europa un-
gcschwncht fort und löste sich dort im Fortgang der wirtschaftlichen Kultur durch verschiedne
Zwischenstufen allmählich und von selbst auf. In Rom unterschied sich das Sklaven- und
Koloncnwesen in den meisten Beziehungen nur dem Namen nach von der strengen Gesinde-
orduung und der feudalen Gutsverfassuug moderner europäischer Länder bis vor nicht langer
Zeit. Ja, im Sklavcustande lag oft noch ein geschützter Nest des Volksvermögens: der Sklave
konnte wenigstens nicht vom Pfluge weggerissen und in das Lager der Legionen geschleppt
werden, während die freie Bevölkerung durch Konskription dezimiert wurde und sich nur all¬
mählich durch die häufigen Freilassungen ergänzte. Auch in Rom hätte sich, wenn im übrigen
die Zeiten nicht so trostlos rückläufig gewesen wären, die Sklaverei vor dein Wachstum der
wirtschaftlichen und politischen Kräfte nicht auf immer halten können."
Grenzboten III 1899 <>4
Briefe eines Zurückgekehrten

So wurzelfest vermochten sie mit diesen Hilfsmitteln ihre Kultur in den euro¬
päischen Boden zu senken, daß diese Kultur unter den Stürmen der Völker¬
wanderung fortvegetierte und nachdem diese ausgetobt hatten, kräftig wieder
ausschlug. Vom römischen Ackerbau in Gallien ist der fränkische, von diesem
aller europäische Ackerbau ausgegangen, und im italienischen Handwerk, in der
italienischen Kunst wurzelt alles, was wir von Gewerbe und Kunst heute be¬
sitzen. Die sozialen Kämpfe Roms haben also in der Hauptsache ihren Zweck
erfüllt. Für den, der in der Weltgeschichte das Weltgericht sehen will, bleiben
die ungetröfteten Leiden der antiken Sklavenschaft und die an ihr begangnen
ungesühnten Verbrechen unerklärt, für eine teleologische Geschichtsauffassung
dagegen bedeutet diese düstere Seite der alten Welt kein Geheimnis.




Briefe eines Zurückgekehrten
2

me Dampferfahrt von ein paar Tagen giebt ausgezeichnete Ge¬
legenheiten zu vergleichenden Völkerstudien. Der seltsame Zu¬
stand einer im Bauche eiuer großen Stahlhülse ins weite Meer
hinansschwimmenden Menge von Menschen jedes Alters, Berufs
und Herkommens bringt merkwürdige Schichtungen und Gruppie¬
rungen hervor. Anziehungen und Abstoßungen bewegen die einen zu und von
einander. Andre verhalten sich vollkommen gleichgiltig und sinken wie unlös¬
liche Körper, die sich aus einer Flüssigkeit aussondern, langsam in stillere


lung unverträglich, aber auf manchen Bildungsstufen — ganz abgesehen von der Nassenanlnge
und den daher rührenden verwickelten politischen und sozialen Problemen — ist sie ein natür¬
liches, unter Umstünden sogar wohlthätiges Institut. Sie bestand auch bei den Barbaren, die
dein antiken Leben ein Ende machten; sie wahrte in den: romanisch-germanischen Europa un-
gcschwncht fort und löste sich dort im Fortgang der wirtschaftlichen Kultur durch verschiedne
Zwischenstufen allmählich und von selbst auf. In Rom unterschied sich das Sklaven- und
Koloncnwesen in den meisten Beziehungen nur dem Namen nach von der strengen Gesinde-
orduung und der feudalen Gutsverfassuug moderner europäischer Länder bis vor nicht langer
Zeit. Ja, im Sklavcustande lag oft noch ein geschützter Nest des Volksvermögens: der Sklave
konnte wenigstens nicht vom Pfluge weggerissen und in das Lager der Legionen geschleppt
werden, während die freie Bevölkerung durch Konskription dezimiert wurde und sich nur all¬
mählich durch die häufigen Freilassungen ergänzte. Auch in Rom hätte sich, wenn im übrigen
die Zeiten nicht so trostlos rückläufig gewesen wären, die Sklaverei vor dein Wachstum der
wirtschaftlichen und politischen Kräfte nicht auf immer halten können."
Grenzboten III 1899 <>4
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[0513] Briefe eines Zurückgekehrten So wurzelfest vermochten sie mit diesen Hilfsmitteln ihre Kultur in den euro¬ päischen Boden zu senken, daß diese Kultur unter den Stürmen der Völker¬ wanderung fortvegetierte und nachdem diese ausgetobt hatten, kräftig wieder ausschlug. Vom römischen Ackerbau in Gallien ist der fränkische, von diesem aller europäische Ackerbau ausgegangen, und im italienischen Handwerk, in der italienischen Kunst wurzelt alles, was wir von Gewerbe und Kunst heute be¬ sitzen. Die sozialen Kämpfe Roms haben also in der Hauptsache ihren Zweck erfüllt. Für den, der in der Weltgeschichte das Weltgericht sehen will, bleiben die ungetröfteten Leiden der antiken Sklavenschaft und die an ihr begangnen ungesühnten Verbrechen unerklärt, für eine teleologische Geschichtsauffassung dagegen bedeutet diese düstere Seite der alten Welt kein Geheimnis. Briefe eines Zurückgekehrten 2 me Dampferfahrt von ein paar Tagen giebt ausgezeichnete Ge¬ legenheiten zu vergleichenden Völkerstudien. Der seltsame Zu¬ stand einer im Bauche eiuer großen Stahlhülse ins weite Meer hinansschwimmenden Menge von Menschen jedes Alters, Berufs und Herkommens bringt merkwürdige Schichtungen und Gruppie¬ rungen hervor. Anziehungen und Abstoßungen bewegen die einen zu und von einander. Andre verhalten sich vollkommen gleichgiltig und sinken wie unlös¬ liche Körper, die sich aus einer Flüssigkeit aussondern, langsam in stillere lung unverträglich, aber auf manchen Bildungsstufen — ganz abgesehen von der Nassenanlnge und den daher rührenden verwickelten politischen und sozialen Problemen — ist sie ein natür¬ liches, unter Umstünden sogar wohlthätiges Institut. Sie bestand auch bei den Barbaren, die dein antiken Leben ein Ende machten; sie wahrte in den: romanisch-germanischen Europa un- gcschwncht fort und löste sich dort im Fortgang der wirtschaftlichen Kultur durch verschiedne Zwischenstufen allmählich und von selbst auf. In Rom unterschied sich das Sklaven- und Koloncnwesen in den meisten Beziehungen nur dem Namen nach von der strengen Gesinde- orduung und der feudalen Gutsverfassuug moderner europäischer Länder bis vor nicht langer Zeit. Ja, im Sklavcustande lag oft noch ein geschützter Nest des Volksvermögens: der Sklave konnte wenigstens nicht vom Pfluge weggerissen und in das Lager der Legionen geschleppt werden, während die freie Bevölkerung durch Konskription dezimiert wurde und sich nur all¬ mählich durch die häufigen Freilassungen ergänzte. Auch in Rom hätte sich, wenn im übrigen die Zeiten nicht so trostlos rückläufig gewesen wären, die Sklaverei vor dein Wachstum der wirtschaftlichen und politischen Kräfte nicht auf immer halten können." Grenzboten III 1899 <>4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/513>, abgerufen am 15.01.2025.