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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Eine Frühlingsfahrt nach den Abrufen und nach Axulien

betrifft. Nur die ältesten, dem dreizehnten Jahrhundert entstammenden Teile
des sMiWv vominuniüs haben sich hiervon, wie es scheint, völlig frei ge¬
halten. Sollte dieser Hang zum Barocken nicht aus dem Charakter der Be¬
wohner einer abgelegnen, wohlhabenden, aber dennoch niemals zu vollster Selb¬
ständigkeit gelangten Seehandelsstadt zu erklären sein? Zeigen nicht ihre Bürger
meist eine gewisse Vorliebe für derb materiellen Lebensgenuß und protziges
Auftreten, legen sie nicht Wert darauf, sür ihr Geld auch etwas zu haben,
das den Aufwand des Eigentümers sofort erkennen läßt? Der Gegensatz von
einst und jetzt, der so bestimmend für die eigentümliche Wirkung der meisten
italienischen Städte ist, kommt übrigens auch bei Ancona zur Geltung. Die
Erbauer der prächtigen alten Börse mit ihrer reichen spätgotischen Fassade
(1459), ihrem großen, stuckgeschmücktcn Barocksaal und ihrer aussichtreichen,
schönen Loggia hätten sicherlich nicht ein so kostspieliges Unternehmen begonnen
und später mehrfach umgestaltet, wenn sie ihren Hafen immer so leer gehabt
hätten, wie er es jetzt zu sein pflegt. Wir fanden ihn bei unsrer ersten An¬
wesenheit in Ancona noch verhältnismäßig gut mit Schiffen besetzt. Die große
Brotteuerung vom Mai 1898, die in Mailand und anderwärts zu einer so
schweren Erschütterung der öffentlichen Ordnung geführt hatte, machte sich in¬
sofern bemerkbar, als vom Auslande, besonders von Südrußland her mächtige
Schiffe mit Getreideladungen einliefen -- ein deutlicher Beweis, daß das Laud
thatsächlich von Kornvorräten entblößt war, und gewisse Händler, augenscheinlich
in der Hoffnung auf höhern Gewinn, nicht rechtzeitig genug für Deckung ge¬
sorgt hatten. Aber sonst sieht es recht still im Hafen aus, jeder einlaufende
Dampfer ist immer ein besondres, wichtiges Ereignis.

Wird man hier am Wasser an das wechselvolle Ringen und Streben des
Menschengeschlechts gemahnt, so gelangt man auf dem obersten Punkte der
Stadt, dem Monte Guasco, in einen dem Kultus der höchsten Gottheit ge¬
weihten Bezirk voll vou Frieden und feierlicher Erhabenheit. Hier, wo wir
den Dom von San Ciriaeo sich auf den alten wohlgefügten Grundmauern
eines klassisch-heidnischen Venustempels erheben sehen, wo antike Statuen und
Grabsteine von längst vergangnen Tagen erzählen, wo sich ein weiter Blick
über Meer und Gebirge öffnet, scheint man den kleinlichen Sorgen des mensch¬
lichen Getriebes entrückt zu sein und sühlt sich über die Angenblickslage hinaus
zu freierer Seelenstimmung angeregt und zur Gottesnähe erhoben. Die Ein¬
heitlichkeit der modernen, mittelalterlichen und antiken Welt wird uns lebendig
vor Augen geführt, und wenn wir in dem eigentümlichen, an malerischen
Wirkungen unendlich reichen Innenraum die Messe zelebrieren und den Kardinal-
Erzbischof inmitten seiner zahlreichen Domgeistlichkeit die gottesdienstlichen
Handlungen verrichten sehen, so wissen wir, daß sich das farbenprächtige, sinn¬
berückende Bild den gläubigen oder ungläubigen Seelen schon seit Jahrhunderten,
fast kann man sagen Jahrtausenden ebenso darbietet wie jetzt. Aber ans dem


Eine Frühlingsfahrt nach den Abrufen und nach Axulien

betrifft. Nur die ältesten, dem dreizehnten Jahrhundert entstammenden Teile
des sMiWv vominuniüs haben sich hiervon, wie es scheint, völlig frei ge¬
halten. Sollte dieser Hang zum Barocken nicht aus dem Charakter der Be¬
wohner einer abgelegnen, wohlhabenden, aber dennoch niemals zu vollster Selb¬
ständigkeit gelangten Seehandelsstadt zu erklären sein? Zeigen nicht ihre Bürger
meist eine gewisse Vorliebe für derb materiellen Lebensgenuß und protziges
Auftreten, legen sie nicht Wert darauf, sür ihr Geld auch etwas zu haben,
das den Aufwand des Eigentümers sofort erkennen läßt? Der Gegensatz von
einst und jetzt, der so bestimmend für die eigentümliche Wirkung der meisten
italienischen Städte ist, kommt übrigens auch bei Ancona zur Geltung. Die
Erbauer der prächtigen alten Börse mit ihrer reichen spätgotischen Fassade
(1459), ihrem großen, stuckgeschmücktcn Barocksaal und ihrer aussichtreichen,
schönen Loggia hätten sicherlich nicht ein so kostspieliges Unternehmen begonnen
und später mehrfach umgestaltet, wenn sie ihren Hafen immer so leer gehabt
hätten, wie er es jetzt zu sein pflegt. Wir fanden ihn bei unsrer ersten An¬
wesenheit in Ancona noch verhältnismäßig gut mit Schiffen besetzt. Die große
Brotteuerung vom Mai 1898, die in Mailand und anderwärts zu einer so
schweren Erschütterung der öffentlichen Ordnung geführt hatte, machte sich in¬
sofern bemerkbar, als vom Auslande, besonders von Südrußland her mächtige
Schiffe mit Getreideladungen einliefen — ein deutlicher Beweis, daß das Laud
thatsächlich von Kornvorräten entblößt war, und gewisse Händler, augenscheinlich
in der Hoffnung auf höhern Gewinn, nicht rechtzeitig genug für Deckung ge¬
sorgt hatten. Aber sonst sieht es recht still im Hafen aus, jeder einlaufende
Dampfer ist immer ein besondres, wichtiges Ereignis.

Wird man hier am Wasser an das wechselvolle Ringen und Streben des
Menschengeschlechts gemahnt, so gelangt man auf dem obersten Punkte der
Stadt, dem Monte Guasco, in einen dem Kultus der höchsten Gottheit ge¬
weihten Bezirk voll vou Frieden und feierlicher Erhabenheit. Hier, wo wir
den Dom von San Ciriaeo sich auf den alten wohlgefügten Grundmauern
eines klassisch-heidnischen Venustempels erheben sehen, wo antike Statuen und
Grabsteine von längst vergangnen Tagen erzählen, wo sich ein weiter Blick
über Meer und Gebirge öffnet, scheint man den kleinlichen Sorgen des mensch¬
lichen Getriebes entrückt zu sein und sühlt sich über die Angenblickslage hinaus
zu freierer Seelenstimmung angeregt und zur Gottesnähe erhoben. Die Ein¬
heitlichkeit der modernen, mittelalterlichen und antiken Welt wird uns lebendig
vor Augen geführt, und wenn wir in dem eigentümlichen, an malerischen
Wirkungen unendlich reichen Innenraum die Messe zelebrieren und den Kardinal-
Erzbischof inmitten seiner zahlreichen Domgeistlichkeit die gottesdienstlichen
Handlungen verrichten sehen, so wissen wir, daß sich das farbenprächtige, sinn¬
berückende Bild den gläubigen oder ungläubigen Seelen schon seit Jahrhunderten,
fast kann man sagen Jahrtausenden ebenso darbietet wie jetzt. Aber ans dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/50>, abgerufen am 15.01.2025.