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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Die Ablehnung des Mittellandkanals

zu können, war es gezwungen, sehr gewichtige, ja die allermeisten wirt¬
schaftlichen Interessen zurückzustellen; seine Beamten mußten sich mit mini¬
malen Gehältern begnügen, während sich das übrige Deutschland die natio¬
nale Landesverteidigung äußerst bequem machte und dann noch dazu über die
Hunger- und Bettelpreußen spottete.

Will man nun wirklich glauben, für alles das Hütte Ostelbien keine Em¬
pfindung, es hätte den Lohn, den es empfing, nämlich hinter die neuen Pro¬
vinzen zurückgestellt zu werden und auf dem Verwaltungs- und wirtschaftlichen
Gebiet gewissermaßen die Rolle des Besiegten zu spielen, ohne jedwede Ver¬
bitterung hingenommen? In einer Bevölkerung, die überwiegend Landwirt¬
schaft treibt, treten die Empfindungen nicht derart an das Licht der Öffent¬
lichkeit wie bei einer industriell zusammengedrängten. Aber um so tiefer und
bittrer wurzelt der Groll im Herzen.

Man hat sich oft über den herben Ton in den agrarischen Kundgebungen
und namentlich dem Grafen Caprivi gegenüber gewundert. Ja, da kam es eben
heraus, was die Herzen lange im stillen genährt hatte. Bismarck gegenüber,
dem märkisch-pommerschen Junker, dem großen Staatsmann, machten sich die
Gefühle nicht derart Luft; aber als sein Nachfolger noch ausdrücklich betonte,
daß er keinen Halm und kein Ar sein eigen nenne, fiel die Rücksicht weg.
Mögen selbstverständlich manche Übertreibungen von agrarischer Seite vor¬
gebracht sein, thatsächlich ist der Wohlstand in den östlichen Provinzen zurück¬
gegangen, und gegenwärtig empfinden sie die sogenannte Leutenot als einen so
schweren Druck wie keinen andern vorher.

Inwieweit die Negierung hier und in andrer Beziehung hätte abhelfen
können, z. B. dadurch, daß sie den Zuzug nach dem Westen durch die Anforde¬
rung ordnungsmäßiger Unterkunft und Beschulung der Einwandernden er¬
schwerte, das Armenrecht anders regelte usw., wollen wir dahingestellt sein
lassen. Darüber aber besteht kein Zweifel, daß man ihr in Ostelbien überein¬
stimmend vorwirft, sie entbehre nicht nur der Kenntnis der Verhältnisse und
damit des Verständnisses dafür, sondern auch des Interesses für den Osten,
und zwar vorwiegend deshalb, weil die wichtigsten Ministerialdezernate von
Neu- und Westprovinzlern verwaltet würden.

Dabei mag ja ein gutes Stück Partikularismus mitspielen; aber wenn
der hcinnoversche Geheimrat keine Sympathien für das "wendische Ostelbien"
hat und sich ihm gegenüber als "Niedersachse," d. h. als reingermanischer höherer
Kulturmensch fühlt, so kann man es dem Ostelbier billigerweise auch nicht ver¬
denken, wenn er ihm die Antipathie herzlich zurückgiebt und aus die histo¬
rische Vergangenheit seiner Heimat und deren Verdienste um Preußen und
Deutschland pocht.

So hatte sich im Laufe der letzten Jahrzehnte viel Zündstoff angesammelt,
vor allem aber, und das muß zum Verständnis der letzten Vorgänge ganz


Grenzboten III 1899 "2
Die Ablehnung des Mittellandkanals

zu können, war es gezwungen, sehr gewichtige, ja die allermeisten wirt¬
schaftlichen Interessen zurückzustellen; seine Beamten mußten sich mit mini¬
malen Gehältern begnügen, während sich das übrige Deutschland die natio¬
nale Landesverteidigung äußerst bequem machte und dann noch dazu über die
Hunger- und Bettelpreußen spottete.

Will man nun wirklich glauben, für alles das Hütte Ostelbien keine Em¬
pfindung, es hätte den Lohn, den es empfing, nämlich hinter die neuen Pro¬
vinzen zurückgestellt zu werden und auf dem Verwaltungs- und wirtschaftlichen
Gebiet gewissermaßen die Rolle des Besiegten zu spielen, ohne jedwede Ver¬
bitterung hingenommen? In einer Bevölkerung, die überwiegend Landwirt¬
schaft treibt, treten die Empfindungen nicht derart an das Licht der Öffent¬
lichkeit wie bei einer industriell zusammengedrängten. Aber um so tiefer und
bittrer wurzelt der Groll im Herzen.

Man hat sich oft über den herben Ton in den agrarischen Kundgebungen
und namentlich dem Grafen Caprivi gegenüber gewundert. Ja, da kam es eben
heraus, was die Herzen lange im stillen genährt hatte. Bismarck gegenüber,
dem märkisch-pommerschen Junker, dem großen Staatsmann, machten sich die
Gefühle nicht derart Luft; aber als sein Nachfolger noch ausdrücklich betonte,
daß er keinen Halm und kein Ar sein eigen nenne, fiel die Rücksicht weg.
Mögen selbstverständlich manche Übertreibungen von agrarischer Seite vor¬
gebracht sein, thatsächlich ist der Wohlstand in den östlichen Provinzen zurück¬
gegangen, und gegenwärtig empfinden sie die sogenannte Leutenot als einen so
schweren Druck wie keinen andern vorher.

Inwieweit die Negierung hier und in andrer Beziehung hätte abhelfen
können, z. B. dadurch, daß sie den Zuzug nach dem Westen durch die Anforde¬
rung ordnungsmäßiger Unterkunft und Beschulung der Einwandernden er¬
schwerte, das Armenrecht anders regelte usw., wollen wir dahingestellt sein
lassen. Darüber aber besteht kein Zweifel, daß man ihr in Ostelbien überein¬
stimmend vorwirft, sie entbehre nicht nur der Kenntnis der Verhältnisse und
damit des Verständnisses dafür, sondern auch des Interesses für den Osten,
und zwar vorwiegend deshalb, weil die wichtigsten Ministerialdezernate von
Neu- und Westprovinzlern verwaltet würden.

Dabei mag ja ein gutes Stück Partikularismus mitspielen; aber wenn
der hcinnoversche Geheimrat keine Sympathien für das „wendische Ostelbien"
hat und sich ihm gegenüber als „Niedersachse," d. h. als reingermanischer höherer
Kulturmensch fühlt, so kann man es dem Ostelbier billigerweise auch nicht ver¬
denken, wenn er ihm die Antipathie herzlich zurückgiebt und aus die histo¬
rische Vergangenheit seiner Heimat und deren Verdienste um Preußen und
Deutschland pocht.

So hatte sich im Laufe der letzten Jahrzehnte viel Zündstoff angesammelt,
vor allem aber, und das muß zum Verständnis der letzten Vorgänge ganz


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[0497] Die Ablehnung des Mittellandkanals zu können, war es gezwungen, sehr gewichtige, ja die allermeisten wirt¬ schaftlichen Interessen zurückzustellen; seine Beamten mußten sich mit mini¬ malen Gehältern begnügen, während sich das übrige Deutschland die natio¬ nale Landesverteidigung äußerst bequem machte und dann noch dazu über die Hunger- und Bettelpreußen spottete. Will man nun wirklich glauben, für alles das Hütte Ostelbien keine Em¬ pfindung, es hätte den Lohn, den es empfing, nämlich hinter die neuen Pro¬ vinzen zurückgestellt zu werden und auf dem Verwaltungs- und wirtschaftlichen Gebiet gewissermaßen die Rolle des Besiegten zu spielen, ohne jedwede Ver¬ bitterung hingenommen? In einer Bevölkerung, die überwiegend Landwirt¬ schaft treibt, treten die Empfindungen nicht derart an das Licht der Öffent¬ lichkeit wie bei einer industriell zusammengedrängten. Aber um so tiefer und bittrer wurzelt der Groll im Herzen. Man hat sich oft über den herben Ton in den agrarischen Kundgebungen und namentlich dem Grafen Caprivi gegenüber gewundert. Ja, da kam es eben heraus, was die Herzen lange im stillen genährt hatte. Bismarck gegenüber, dem märkisch-pommerschen Junker, dem großen Staatsmann, machten sich die Gefühle nicht derart Luft; aber als sein Nachfolger noch ausdrücklich betonte, daß er keinen Halm und kein Ar sein eigen nenne, fiel die Rücksicht weg. Mögen selbstverständlich manche Übertreibungen von agrarischer Seite vor¬ gebracht sein, thatsächlich ist der Wohlstand in den östlichen Provinzen zurück¬ gegangen, und gegenwärtig empfinden sie die sogenannte Leutenot als einen so schweren Druck wie keinen andern vorher. Inwieweit die Negierung hier und in andrer Beziehung hätte abhelfen können, z. B. dadurch, daß sie den Zuzug nach dem Westen durch die Anforde¬ rung ordnungsmäßiger Unterkunft und Beschulung der Einwandernden er¬ schwerte, das Armenrecht anders regelte usw., wollen wir dahingestellt sein lassen. Darüber aber besteht kein Zweifel, daß man ihr in Ostelbien überein¬ stimmend vorwirft, sie entbehre nicht nur der Kenntnis der Verhältnisse und damit des Verständnisses dafür, sondern auch des Interesses für den Osten, und zwar vorwiegend deshalb, weil die wichtigsten Ministerialdezernate von Neu- und Westprovinzlern verwaltet würden. Dabei mag ja ein gutes Stück Partikularismus mitspielen; aber wenn der hcinnoversche Geheimrat keine Sympathien für das „wendische Ostelbien" hat und sich ihm gegenüber als „Niedersachse," d. h. als reingermanischer höherer Kulturmensch fühlt, so kann man es dem Ostelbier billigerweise auch nicht ver¬ denken, wenn er ihm die Antipathie herzlich zurückgiebt und aus die histo¬ rische Vergangenheit seiner Heimat und deren Verdienste um Preußen und Deutschland pocht. So hatte sich im Laufe der letzten Jahrzehnte viel Zündstoff angesammelt, vor allem aber, und das muß zum Verständnis der letzten Vorgänge ganz Grenzboten III 1899 «2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/497>, abgerufen am 15.01.2025.