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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Die Ablehnung des Mittellandkanals^)
von einem Gstelbier

achten am 29. August die parlamentarische Kampagne ihr Ende
erreicht und die Erklärung der königlich preußischen Staats¬
regierung in der gemeinsamen Schlußsitzung des Landtags trotz
aller andern Voraussagungen und Androhungen scharfer Ma߬
nahmen nichts andres gebracht hat als die Ankündigung, daß
die Vorlage in der nächsten Session wiederkehren würde, geziemt sich wohl
noch eine kurze Beleuchtung der Situation mit einem Rückblick auf ihre Ursachen
und einem Ausblick auf ihre Folgen.

Es ist bekannt, daß Wilhelm I. vor der Annahme des Kaisertitels die
Befürchtung aussprach, Preußen möchte, wenn seine Könige Kaiser würden,
zu kurz kommen, indem sich die spätern Herrscher mehr den deutschen Inter¬
essen zuwenden könnten. Die Preußen würden dann sagen: "Wir hatten doch
früher einen König!" Nun Wilhelm II. weiß die Pflichten des deutschen Kaisers
und die des Königs von Preußen vollkommen mit einander zu vereinigen; er
ist den Brandenburgern ihr Markgraf und den Pommern ihr Herzog geblieben.
Trotzdem aber haben sich die Befürchtungen seines Großvaters in einem ge¬
wissen Sinne doch verwirklicht. Bekanntlich wird der preußische Staat nur
in einem sehr beschränkten Umfange von dem König und den Ministern regiert.
Der König führt selbst den Oberbefehl über Deutschlands Heer und Flotte,
ebenso liegt die oberste Entscheidung über die auswärtige Politik in seiner
Hand. Außerdem hat er nach den geltenden gesetzlichen Bestimmungen und
Gepflogenheiten tagtäglich eine Unsumme von Ernennungen, Patenten, Er¬
lassen usw. durch seine Unterschrift zu sanktionieren; sich um alle Einzelheiten
der Verwaltung zu kümmern, dazu fehlt ihm einfach die Zeit, weil der Tag
auch für ihn wie für jeden Sterblichen nur vierundzwanzig Stunden hat.

Von den Ministern gilt annähernd dasselbe, ihre Ressorts sind zu groß
(z. V. das Kultusministerium mit Kirche, Universitäten, höhern und Volks¬
schulen, Medizinalwesen, Stiftungen usw.), und vor allem kommt die unglück¬
liche bis aufs äußerste überspannte Zentralisation hinzu, die jeden, auch
den geringsten Quark vor das Forum der obersten Instanz zieht. Über die



*) Wir bringen diesen Artikel, weil er die wichtige Angelegenheit von einer neuen Seite
A> d. Red. beleuchtet und aus der Feder eines genauen Sachkenners stammt,


Die Ablehnung des Mittellandkanals^)
von einem Gstelbier

achten am 29. August die parlamentarische Kampagne ihr Ende
erreicht und die Erklärung der königlich preußischen Staats¬
regierung in der gemeinsamen Schlußsitzung des Landtags trotz
aller andern Voraussagungen und Androhungen scharfer Ma߬
nahmen nichts andres gebracht hat als die Ankündigung, daß
die Vorlage in der nächsten Session wiederkehren würde, geziemt sich wohl
noch eine kurze Beleuchtung der Situation mit einem Rückblick auf ihre Ursachen
und einem Ausblick auf ihre Folgen.

Es ist bekannt, daß Wilhelm I. vor der Annahme des Kaisertitels die
Befürchtung aussprach, Preußen möchte, wenn seine Könige Kaiser würden,
zu kurz kommen, indem sich die spätern Herrscher mehr den deutschen Inter¬
essen zuwenden könnten. Die Preußen würden dann sagen: „Wir hatten doch
früher einen König!" Nun Wilhelm II. weiß die Pflichten des deutschen Kaisers
und die des Königs von Preußen vollkommen mit einander zu vereinigen; er
ist den Brandenburgern ihr Markgraf und den Pommern ihr Herzog geblieben.
Trotzdem aber haben sich die Befürchtungen seines Großvaters in einem ge¬
wissen Sinne doch verwirklicht. Bekanntlich wird der preußische Staat nur
in einem sehr beschränkten Umfange von dem König und den Ministern regiert.
Der König führt selbst den Oberbefehl über Deutschlands Heer und Flotte,
ebenso liegt die oberste Entscheidung über die auswärtige Politik in seiner
Hand. Außerdem hat er nach den geltenden gesetzlichen Bestimmungen und
Gepflogenheiten tagtäglich eine Unsumme von Ernennungen, Patenten, Er¬
lassen usw. durch seine Unterschrift zu sanktionieren; sich um alle Einzelheiten
der Verwaltung zu kümmern, dazu fehlt ihm einfach die Zeit, weil der Tag
auch für ihn wie für jeden Sterblichen nur vierundzwanzig Stunden hat.

Von den Ministern gilt annähernd dasselbe, ihre Ressorts sind zu groß
(z. V. das Kultusministerium mit Kirche, Universitäten, höhern und Volks¬
schulen, Medizinalwesen, Stiftungen usw.), und vor allem kommt die unglück¬
liche bis aufs äußerste überspannte Zentralisation hinzu, die jeden, auch
den geringsten Quark vor das Forum der obersten Instanz zieht. Über die



*) Wir bringen diesen Artikel, weil er die wichtige Angelegenheit von einer neuen Seite
A> d. Red. beleuchtet und aus der Feder eines genauen Sachkenners stammt,
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[0494] [Abbildung] Die Ablehnung des Mittellandkanals^) von einem Gstelbier achten am 29. August die parlamentarische Kampagne ihr Ende erreicht und die Erklärung der königlich preußischen Staats¬ regierung in der gemeinsamen Schlußsitzung des Landtags trotz aller andern Voraussagungen und Androhungen scharfer Ma߬ nahmen nichts andres gebracht hat als die Ankündigung, daß die Vorlage in der nächsten Session wiederkehren würde, geziemt sich wohl noch eine kurze Beleuchtung der Situation mit einem Rückblick auf ihre Ursachen und einem Ausblick auf ihre Folgen. Es ist bekannt, daß Wilhelm I. vor der Annahme des Kaisertitels die Befürchtung aussprach, Preußen möchte, wenn seine Könige Kaiser würden, zu kurz kommen, indem sich die spätern Herrscher mehr den deutschen Inter¬ essen zuwenden könnten. Die Preußen würden dann sagen: „Wir hatten doch früher einen König!" Nun Wilhelm II. weiß die Pflichten des deutschen Kaisers und die des Königs von Preußen vollkommen mit einander zu vereinigen; er ist den Brandenburgern ihr Markgraf und den Pommern ihr Herzog geblieben. Trotzdem aber haben sich die Befürchtungen seines Großvaters in einem ge¬ wissen Sinne doch verwirklicht. Bekanntlich wird der preußische Staat nur in einem sehr beschränkten Umfange von dem König und den Ministern regiert. Der König führt selbst den Oberbefehl über Deutschlands Heer und Flotte, ebenso liegt die oberste Entscheidung über die auswärtige Politik in seiner Hand. Außerdem hat er nach den geltenden gesetzlichen Bestimmungen und Gepflogenheiten tagtäglich eine Unsumme von Ernennungen, Patenten, Er¬ lassen usw. durch seine Unterschrift zu sanktionieren; sich um alle Einzelheiten der Verwaltung zu kümmern, dazu fehlt ihm einfach die Zeit, weil der Tag auch für ihn wie für jeden Sterblichen nur vierundzwanzig Stunden hat. Von den Ministern gilt annähernd dasselbe, ihre Ressorts sind zu groß (z. V. das Kultusministerium mit Kirche, Universitäten, höhern und Volks¬ schulen, Medizinalwesen, Stiftungen usw.), und vor allem kommt die unglück¬ liche bis aufs äußerste überspannte Zentralisation hinzu, die jeden, auch den geringsten Quark vor das Forum der obersten Instanz zieht. Über die *) Wir bringen diesen Artikel, weil er die wichtige Angelegenheit von einer neuen Seite A> d. Red. beleuchtet und aus der Feder eines genauen Sachkenners stammt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/494>, abgerufen am 15.01.2025.