Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.Serbiens politische und moralische Bekehrung Sonst würden zwei der trefflich geübten österreichisch-ungarischen Armeekorps Aber freilich das sind Dinge, die man nicht so über Nacht besorgen kann, Serbiens politische und moralische Bekehrung Sonst würden zwei der trefflich geübten österreichisch-ungarischen Armeekorps Aber freilich das sind Dinge, die man nicht so über Nacht besorgen kann, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0447" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231617"/> <fw type="header" place="top"> Serbiens politische und moralische Bekehrung</fw><lb/> <p xml:id="ID_1488" prev="#ID_1487"> Sonst würden zwei der trefflich geübten österreichisch-ungarischen Armeekorps<lb/> genügen, eines Tags ohne große Verluste den ganzen kleinen Staat einzustecken.<lb/> Um dieser Gefahr vorzubeugen, bedarf es sür Serbien einer auswärtigen Politik,<lb/> die nicht nur keine Streitereien mit Österreich-Ungarn wie mit Bulgarien sucht,<lb/> sondern die, der Errettung im Jahre 1885 dankbar eingedenk, sich aufrichtig<lb/> um den innigsten Anschluß an den Kaiserstaat bemüht. Ein solcher wird sich<lb/> dann aber nicht nur wirtschaftlich bezahlt machen, sondern wird auch — denn<lb/> der Himmel ist hoch, und der Zar fern — die notwendige Zeit gewähren, die<lb/> Wehrkraft des Landes zu heben und durch eine scharfe militärische Zucht der<lb/> ganzen Bevölkerung dqs Maß von Disziplin, Anspannung und Härte gegen sich<lb/> selbst beizubringen, das nicht nur für etwaige kriegerische Ereignisse erforderlich<lb/> ist, sondern auch bei friedlicher Weiterentwicklung die Grundlage alles Gedeihens<lb/> abgiebt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1489" next="#ID_1490"> Aber freilich das sind Dinge, die man nicht so über Nacht besorgen kann,<lb/> wie die Aufhebung der Hälfte der Gymnasien, und es sind auch Dinge, die<lb/> überhaupt nicht einer allein machen kann, selbst wenn er eine Dynastie hinter<lb/> sich hätte, mit der es anders stünde als — leider mit der serbischen. Aber<lb/> wo soll Wladan Gjorgjewitsch die Kräfte hernehmen, die er braucht? Ja<lb/> wenn es nur die ältere Generation wäre, die sich besudelt hat vor allem<lb/> mit Unehrlichkeit gegen den Staat, und die, wo Entdeckung drohte, selbst<lb/> nicht vor Mord zurückschreckte. Allein die heranwachsende Generation der<lb/> obern Zehntausend ist in ihrer Trägheit, Arbeitsscheu und Blasiertheit wo¬<lb/> möglich noch schlimmer. Fragt man so einen jungen Menschen, was er stu¬<lb/> dieren wolle, so heißt es „Jurisprudenz"; „warum"? „weil das am leichtesten<lb/> ist." Nie ein Gedanke an das Vaterland und die Verpflichtung, die man ihm<lb/> gegenüber hat; ja nicht einmal gemeine Geldgier; nein, reine Arbeitsscheu, was<lb/> man auch zynisch zugiebt, das ist der Hauptgrund, nach dem so ein junger<lb/> Mensch seinen Lebensberuf wählt. Und fast noch erbärmlicher sollen die Mädchen<lb/> sein. Ich erinnere mich z. B. einmal eine gefragt zu haben, warum sie nie<lb/> einem armen Krüppel an der Straße ein Almosen gebe. „O, meinte sie, es<lb/> ist mir zu umständlich, deshalb in die Tasche zu greifen." Und dann die An¬<lb/> schauungen, mit denen diese Mädchen in die Ehe treten! Nun, der Arzt<lb/> Wladan Gjorgjewitsch wird wohl gewußt haben, weshalb er eine Österreicherin<lb/> und keine der schönen Serbinnen zur Frau genommen hat. Einzelheiten auf<lb/> diesem bedenklichen Gebiete zu geben, liegt mir fern; aber was soll man er¬<lb/> warten von einer leitenden Volksklasse, unter deren Frauen die vorzeitige Be¬<lb/> schwichtigung drohender Schreihälse als eine ganz selbstverständliche kleine<lb/> Operation betrachtet wird, die denn auch Belgrader Ärzte immer bereitwilligst<lb/> und ganz billig ausführen sollen; und das sind in Belgrad keine Geheimnisse!<lb/> Daß man mit verheirateten Frauen gelegentlich auf den Hofhallen Rendezvous<lb/> ausmachte, war ganz gewöhnlich, nachdem die Königin Natalie auf diesen einen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0447]
Serbiens politische und moralische Bekehrung
Sonst würden zwei der trefflich geübten österreichisch-ungarischen Armeekorps
genügen, eines Tags ohne große Verluste den ganzen kleinen Staat einzustecken.
Um dieser Gefahr vorzubeugen, bedarf es sür Serbien einer auswärtigen Politik,
die nicht nur keine Streitereien mit Österreich-Ungarn wie mit Bulgarien sucht,
sondern die, der Errettung im Jahre 1885 dankbar eingedenk, sich aufrichtig
um den innigsten Anschluß an den Kaiserstaat bemüht. Ein solcher wird sich
dann aber nicht nur wirtschaftlich bezahlt machen, sondern wird auch — denn
der Himmel ist hoch, und der Zar fern — die notwendige Zeit gewähren, die
Wehrkraft des Landes zu heben und durch eine scharfe militärische Zucht der
ganzen Bevölkerung dqs Maß von Disziplin, Anspannung und Härte gegen sich
selbst beizubringen, das nicht nur für etwaige kriegerische Ereignisse erforderlich
ist, sondern auch bei friedlicher Weiterentwicklung die Grundlage alles Gedeihens
abgiebt.
Aber freilich das sind Dinge, die man nicht so über Nacht besorgen kann,
wie die Aufhebung der Hälfte der Gymnasien, und es sind auch Dinge, die
überhaupt nicht einer allein machen kann, selbst wenn er eine Dynastie hinter
sich hätte, mit der es anders stünde als — leider mit der serbischen. Aber
wo soll Wladan Gjorgjewitsch die Kräfte hernehmen, die er braucht? Ja
wenn es nur die ältere Generation wäre, die sich besudelt hat vor allem
mit Unehrlichkeit gegen den Staat, und die, wo Entdeckung drohte, selbst
nicht vor Mord zurückschreckte. Allein die heranwachsende Generation der
obern Zehntausend ist in ihrer Trägheit, Arbeitsscheu und Blasiertheit wo¬
möglich noch schlimmer. Fragt man so einen jungen Menschen, was er stu¬
dieren wolle, so heißt es „Jurisprudenz"; „warum"? „weil das am leichtesten
ist." Nie ein Gedanke an das Vaterland und die Verpflichtung, die man ihm
gegenüber hat; ja nicht einmal gemeine Geldgier; nein, reine Arbeitsscheu, was
man auch zynisch zugiebt, das ist der Hauptgrund, nach dem so ein junger
Mensch seinen Lebensberuf wählt. Und fast noch erbärmlicher sollen die Mädchen
sein. Ich erinnere mich z. B. einmal eine gefragt zu haben, warum sie nie
einem armen Krüppel an der Straße ein Almosen gebe. „O, meinte sie, es
ist mir zu umständlich, deshalb in die Tasche zu greifen." Und dann die An¬
schauungen, mit denen diese Mädchen in die Ehe treten! Nun, der Arzt
Wladan Gjorgjewitsch wird wohl gewußt haben, weshalb er eine Österreicherin
und keine der schönen Serbinnen zur Frau genommen hat. Einzelheiten auf
diesem bedenklichen Gebiete zu geben, liegt mir fern; aber was soll man er¬
warten von einer leitenden Volksklasse, unter deren Frauen die vorzeitige Be¬
schwichtigung drohender Schreihälse als eine ganz selbstverständliche kleine
Operation betrachtet wird, die denn auch Belgrader Ärzte immer bereitwilligst
und ganz billig ausführen sollen; und das sind in Belgrad keine Geheimnisse!
Daß man mit verheirateten Frauen gelegentlich auf den Hofhallen Rendezvous
ausmachte, war ganz gewöhnlich, nachdem die Königin Natalie auf diesen einen
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