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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Russen und Engländer in Zentralasien

Offensive. Es wäre nicht übel, wenn Ssamarkand durch eine Eisenbahn mit
dem Ann-Darja in Richtung auf Mazar-i-Scherif verbunden werden könnte.
Auf der Linie des Ann-Darja könnte alsdann eine weitere Basis für das Vor¬
dringen in Afghanistan von Norden her gewonnen werden. Der nächste Schritt
in der Richtung auf die Grenzen Indiens würde zur dauernden Besetzung
Afghanistans und zur Einrichtung einer neuen Operationsbasis auf der Linie
Kabul-Kandahar führen. Der dritte Schritt wäre endlich die Eroberung des
Landes westlich vom Indus, wodurch folgendes erreicht würde: 1. die Ein¬
verleibung der Gebiete Herat, Kandahar und Britisch-Beludschistan, d. h. die
Ausdehnung Rußlands bis an ein südliches Meer, 2. die Errichtung eines
Protektorats über Afghanistan und 3. der Abschluß eines dauerhaften Friedens
mit England auf Grund von Bedingungen, die für beide Reiche vorteil¬
haft sind.

Zur Besetzung von Herat hält der Verfasser ein Detachement von
22000 Mann und 48 Geschützen nebst einer Reserve von 28000 Mann mit
54 Geschützen für ausreichend.

Für den zweiten Feldzug wäre dagegen schon eine ganze Armee nötig,
nämlich ein Hauptkorps von 68000 Mann mit 204 Geschützen (33000 Kamelen),
das über Ssabsawar und Farah auf Kandahar, und ein Hilfskorps von
65000 Mann mit 112 Geschützen, das über Mazar-i-Scherif und den Bmnicm-
paß auf Kabul zu operieren und durch ein Seitendetachement Tschitml und
Gilghit zu besetzen hätte.

Für den dritten Akt, d. h. die Offensive an den Indus müßten aus
Nußland soviel Kräfte herangezogen werden, daß die Operationsarmee eine
Stärke von 230000 Mann erreicht. Von der Zwischenbasis Kabul--Kandahar
wird auf Peschawar oder Pischin--Dera-Ghazi-Khan--Lahore vormarschiert.

Alle Berechnungen des Verfassers sind natürlich etwas willkürlich und
klingen teilweise stark an Mac-Gregor an. Es ist aber auch bei eingehendem
Studium der innerasiatischen Verhältnisse nicht leicht, den Verlauf eines
1500 Werst weit führenden Kriegszugs zu übersehen, der noch dazu in drei
Feldzüge zerfallen soll. Eine Unzahl unvorhergesehener Zufälligkeiten kann
den Kriegsplan und alle Zahlenangaben von Grund aus verändern. So
haben alle Berechnungen des Verfassers nur insofern Wert, als sie erstens
immerhin auf positiven Angaben aufgebaut sind, zweitens bestätigen, was schon
oben ausgesprochen ist, daß uümlich ein Kriegszug nach Indien schwere Opfer
heischen wird.

Wie dem auch sei, die Frage eines Feldzugs nach Indien tritt bei der
heutigen Gestaltung der politischen Lage und mit der Vervollkommnung der
Kampfmittel immer mehr in den Vordergrund. Die Hauptvormarschrichtung
bleibt dieselbe wie in alten Zeiten -- über Herat, Kandahar unter Umgehung
des Himcilayakammes auf das Solimangebirge. Herat und Kandahar haben


Russen und Engländer in Zentralasien

Offensive. Es wäre nicht übel, wenn Ssamarkand durch eine Eisenbahn mit
dem Ann-Darja in Richtung auf Mazar-i-Scherif verbunden werden könnte.
Auf der Linie des Ann-Darja könnte alsdann eine weitere Basis für das Vor¬
dringen in Afghanistan von Norden her gewonnen werden. Der nächste Schritt
in der Richtung auf die Grenzen Indiens würde zur dauernden Besetzung
Afghanistans und zur Einrichtung einer neuen Operationsbasis auf der Linie
Kabul-Kandahar führen. Der dritte Schritt wäre endlich die Eroberung des
Landes westlich vom Indus, wodurch folgendes erreicht würde: 1. die Ein¬
verleibung der Gebiete Herat, Kandahar und Britisch-Beludschistan, d. h. die
Ausdehnung Rußlands bis an ein südliches Meer, 2. die Errichtung eines
Protektorats über Afghanistan und 3. der Abschluß eines dauerhaften Friedens
mit England auf Grund von Bedingungen, die für beide Reiche vorteil¬
haft sind.

Zur Besetzung von Herat hält der Verfasser ein Detachement von
22000 Mann und 48 Geschützen nebst einer Reserve von 28000 Mann mit
54 Geschützen für ausreichend.

Für den zweiten Feldzug wäre dagegen schon eine ganze Armee nötig,
nämlich ein Hauptkorps von 68000 Mann mit 204 Geschützen (33000 Kamelen),
das über Ssabsawar und Farah auf Kandahar, und ein Hilfskorps von
65000 Mann mit 112 Geschützen, das über Mazar-i-Scherif und den Bmnicm-
paß auf Kabul zu operieren und durch ein Seitendetachement Tschitml und
Gilghit zu besetzen hätte.

Für den dritten Akt, d. h. die Offensive an den Indus müßten aus
Nußland soviel Kräfte herangezogen werden, daß die Operationsarmee eine
Stärke von 230000 Mann erreicht. Von der Zwischenbasis Kabul—Kandahar
wird auf Peschawar oder Pischin—Dera-Ghazi-Khan—Lahore vormarschiert.

Alle Berechnungen des Verfassers sind natürlich etwas willkürlich und
klingen teilweise stark an Mac-Gregor an. Es ist aber auch bei eingehendem
Studium der innerasiatischen Verhältnisse nicht leicht, den Verlauf eines
1500 Werst weit führenden Kriegszugs zu übersehen, der noch dazu in drei
Feldzüge zerfallen soll. Eine Unzahl unvorhergesehener Zufälligkeiten kann
den Kriegsplan und alle Zahlenangaben von Grund aus verändern. So
haben alle Berechnungen des Verfassers nur insofern Wert, als sie erstens
immerhin auf positiven Angaben aufgebaut sind, zweitens bestätigen, was schon
oben ausgesprochen ist, daß uümlich ein Kriegszug nach Indien schwere Opfer
heischen wird.

Wie dem auch sei, die Frage eines Feldzugs nach Indien tritt bei der
heutigen Gestaltung der politischen Lage und mit der Vervollkommnung der
Kampfmittel immer mehr in den Vordergrund. Die Hauptvormarschrichtung
bleibt dieselbe wie in alten Zeiten — über Herat, Kandahar unter Umgehung
des Himcilayakammes auf das Solimangebirge. Herat und Kandahar haben


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[0408] Russen und Engländer in Zentralasien Offensive. Es wäre nicht übel, wenn Ssamarkand durch eine Eisenbahn mit dem Ann-Darja in Richtung auf Mazar-i-Scherif verbunden werden könnte. Auf der Linie des Ann-Darja könnte alsdann eine weitere Basis für das Vor¬ dringen in Afghanistan von Norden her gewonnen werden. Der nächste Schritt in der Richtung auf die Grenzen Indiens würde zur dauernden Besetzung Afghanistans und zur Einrichtung einer neuen Operationsbasis auf der Linie Kabul-Kandahar führen. Der dritte Schritt wäre endlich die Eroberung des Landes westlich vom Indus, wodurch folgendes erreicht würde: 1. die Ein¬ verleibung der Gebiete Herat, Kandahar und Britisch-Beludschistan, d. h. die Ausdehnung Rußlands bis an ein südliches Meer, 2. die Errichtung eines Protektorats über Afghanistan und 3. der Abschluß eines dauerhaften Friedens mit England auf Grund von Bedingungen, die für beide Reiche vorteil¬ haft sind. Zur Besetzung von Herat hält der Verfasser ein Detachement von 22000 Mann und 48 Geschützen nebst einer Reserve von 28000 Mann mit 54 Geschützen für ausreichend. Für den zweiten Feldzug wäre dagegen schon eine ganze Armee nötig, nämlich ein Hauptkorps von 68000 Mann mit 204 Geschützen (33000 Kamelen), das über Ssabsawar und Farah auf Kandahar, und ein Hilfskorps von 65000 Mann mit 112 Geschützen, das über Mazar-i-Scherif und den Bmnicm- paß auf Kabul zu operieren und durch ein Seitendetachement Tschitml und Gilghit zu besetzen hätte. Für den dritten Akt, d. h. die Offensive an den Indus müßten aus Nußland soviel Kräfte herangezogen werden, daß die Operationsarmee eine Stärke von 230000 Mann erreicht. Von der Zwischenbasis Kabul—Kandahar wird auf Peschawar oder Pischin—Dera-Ghazi-Khan—Lahore vormarschiert. Alle Berechnungen des Verfassers sind natürlich etwas willkürlich und klingen teilweise stark an Mac-Gregor an. Es ist aber auch bei eingehendem Studium der innerasiatischen Verhältnisse nicht leicht, den Verlauf eines 1500 Werst weit führenden Kriegszugs zu übersehen, der noch dazu in drei Feldzüge zerfallen soll. Eine Unzahl unvorhergesehener Zufälligkeiten kann den Kriegsplan und alle Zahlenangaben von Grund aus verändern. So haben alle Berechnungen des Verfassers nur insofern Wert, als sie erstens immerhin auf positiven Angaben aufgebaut sind, zweitens bestätigen, was schon oben ausgesprochen ist, daß uümlich ein Kriegszug nach Indien schwere Opfer heischen wird. Wie dem auch sei, die Frage eines Feldzugs nach Indien tritt bei der heutigen Gestaltung der politischen Lage und mit der Vervollkommnung der Kampfmittel immer mehr in den Vordergrund. Die Hauptvormarschrichtung bleibt dieselbe wie in alten Zeiten — über Herat, Kandahar unter Umgehung des Himcilayakammes auf das Solimangebirge. Herat und Kandahar haben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/408>, abgerufen am 15.01.2025.