Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.Russen und Engländer in Zentralasien verfrüht erweisen sollte, so ist doch wohl der Wunsch wieder einmal der Vater 1 Die Zeiten sind vorüber, wo Indien als ein Zauberland galt, das zu Bevor es uns in Turkestan gelang, allmählich Boden zu gewinnen, hatten Russen und Engländer in Zentralasien verfrüht erweisen sollte, so ist doch wohl der Wunsch wieder einmal der Vater 1 Die Zeiten sind vorüber, wo Indien als ein Zauberland galt, das zu Bevor es uns in Turkestan gelang, allmählich Boden zu gewinnen, hatten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0400" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231570"/> <fw type="header" place="top"> Russen und Engländer in Zentralasien</fw><lb/> <p xml:id="ID_1299" prev="#ID_1298"> verfrüht erweisen sollte, so ist doch wohl der Wunsch wieder einmal der Vater<lb/> des Gedankens gewesen, und die Nachricht ist zunächst ein Fühler, der von der<lb/> Regierung ausgestreckt worden ist, um die Wirkung der für später thatsächlich<lb/> beabsichtigten Erwerbung zu untersuchen. Und es ist gar nicht unmöglich,<lb/> daß die Zeitungsnotiz im Zusammenhang steht mit einem vor einiger Zeit in<lb/> der Aov(y6 WrsnM veröffentlichten Aufsatz über die Ziele der russischen Politik<lb/> in Mittelasien, die am Schluß die Erwerbung eines Hafens fordert. Die Be¬<lb/> deutung einer solchen Erwerbung für den augenblicklichen Stand der russisch¬<lb/> englischen Beziehungen rechtfertigt unsern Versuch, den genannten Artikel in<lb/> den nachfolgenden Zeilen wiederzugeben.</p><lb/> <div n="2"> <head> 1</head><lb/> <p xml:id="ID_1300"> Die Zeiten sind vorüber, wo Indien als ein Zauberland galt, das zu<lb/> Pferde nur in hundert Jahren zu erreichen war, und wohin sich verwegne<lb/> Ritter auf den Flügeln märchenhafter Riesenvögel führen ließen. Von Peter<lb/> dem Großen an trugen sich mehrere Zaren mit dem Gedanken, einen Kriegs¬<lb/> zug nach Indien zu unternehmen; dieser sollte zumeist durch Persien gehn,<lb/> da Turkestan zu wenig bekannt war. Man hielt Persien früher für stärker<lb/> als heutzutage, und zudem gingen die Meinungen über die einzuschlagenden<lb/> Wege sehr aus einander. Darum war es allerdings besser, sich an die durch<lb/> Peter den Großen gewiesene Richtung zu halten und zunächst in Turkestan<lb/> festen Fuß zu fassen, mit andern Worten, sich hier eine strategische Basis zu<lb/> schaffen. Darüber ist nun das ganze neunzehnte Jahrhundert vergangen; erst<lb/> jetzt ist man glücklich so weit gekommen, daß die Idee eines russischen Kriegs¬<lb/> zugs nach Indien ihres abenteuerlichen Charakters entkleidet worden ist: in<lb/> der Presse spricht man von einem solchen Kriegszug als von einem sehr<lb/> schwierigen, aber jedenfalls ausführbaren Unternehmen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1301" next="#ID_1302"> Bevor es uns in Turkestan gelang, allmählich Boden zu gewinnen, hatten<lb/> wir mit Persien blutige Kriege zu führen. Die Siege Kotlarjewstis unter<lb/> Alexander I. und Paskjewitschs unter Nikolaus I. brachte« uns den Besitz von<lb/> Baku, Lenkoran und Eriwan und verdrängten die Perser aus Tmnskaspien.<lb/> Hierauf erst drangen wir gegen den Aralsee und den Sshr- und Ann-Darja<lb/> vor. Tschemkent, Taschkend, Chodshent, Chiwa, Andishan, Kokan, Geol-tepe,<lb/> Aßchabad, Merw, Kuschk und Pamir sind die Etappen auf dem Siegeszuge<lb/> unsrer Heere, die jeden neuen Schritt vorwärts mit ihrem Blute bezahlen<lb/> mußten. In die letzten zwanzig Jahre fällt als hochbedeutsames Ereignis der<lb/> Bau der großen Eisenbahn Krasnowodsk-Tschardshui-Andishan; sie hat uns<lb/> für unser weiteres Vordringen eine höchst wichtige Basis geschaffen, die mit<lb/> dem europäischen Rußland nach Westen hin durch die Dampfschiffahrt auf<lb/> dem Kaspischen Meere verbunden ist und sich, wenn erst Taschkend an eine der<lb/> sibirischen Bahnlinien Anschluß erhalten hat, auch von Osten her in enge Be-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0400]
Russen und Engländer in Zentralasien
verfrüht erweisen sollte, so ist doch wohl der Wunsch wieder einmal der Vater
des Gedankens gewesen, und die Nachricht ist zunächst ein Fühler, der von der
Regierung ausgestreckt worden ist, um die Wirkung der für später thatsächlich
beabsichtigten Erwerbung zu untersuchen. Und es ist gar nicht unmöglich,
daß die Zeitungsnotiz im Zusammenhang steht mit einem vor einiger Zeit in
der Aov(y6 WrsnM veröffentlichten Aufsatz über die Ziele der russischen Politik
in Mittelasien, die am Schluß die Erwerbung eines Hafens fordert. Die Be¬
deutung einer solchen Erwerbung für den augenblicklichen Stand der russisch¬
englischen Beziehungen rechtfertigt unsern Versuch, den genannten Artikel in
den nachfolgenden Zeilen wiederzugeben.
1
Die Zeiten sind vorüber, wo Indien als ein Zauberland galt, das zu
Pferde nur in hundert Jahren zu erreichen war, und wohin sich verwegne
Ritter auf den Flügeln märchenhafter Riesenvögel führen ließen. Von Peter
dem Großen an trugen sich mehrere Zaren mit dem Gedanken, einen Kriegs¬
zug nach Indien zu unternehmen; dieser sollte zumeist durch Persien gehn,
da Turkestan zu wenig bekannt war. Man hielt Persien früher für stärker
als heutzutage, und zudem gingen die Meinungen über die einzuschlagenden
Wege sehr aus einander. Darum war es allerdings besser, sich an die durch
Peter den Großen gewiesene Richtung zu halten und zunächst in Turkestan
festen Fuß zu fassen, mit andern Worten, sich hier eine strategische Basis zu
schaffen. Darüber ist nun das ganze neunzehnte Jahrhundert vergangen; erst
jetzt ist man glücklich so weit gekommen, daß die Idee eines russischen Kriegs¬
zugs nach Indien ihres abenteuerlichen Charakters entkleidet worden ist: in
der Presse spricht man von einem solchen Kriegszug als von einem sehr
schwierigen, aber jedenfalls ausführbaren Unternehmen.
Bevor es uns in Turkestan gelang, allmählich Boden zu gewinnen, hatten
wir mit Persien blutige Kriege zu führen. Die Siege Kotlarjewstis unter
Alexander I. und Paskjewitschs unter Nikolaus I. brachte« uns den Besitz von
Baku, Lenkoran und Eriwan und verdrängten die Perser aus Tmnskaspien.
Hierauf erst drangen wir gegen den Aralsee und den Sshr- und Ann-Darja
vor. Tschemkent, Taschkend, Chodshent, Chiwa, Andishan, Kokan, Geol-tepe,
Aßchabad, Merw, Kuschk und Pamir sind die Etappen auf dem Siegeszuge
unsrer Heere, die jeden neuen Schritt vorwärts mit ihrem Blute bezahlen
mußten. In die letzten zwanzig Jahre fällt als hochbedeutsames Ereignis der
Bau der großen Eisenbahn Krasnowodsk-Tschardshui-Andishan; sie hat uns
für unser weiteres Vordringen eine höchst wichtige Basis geschaffen, die mit
dem europäischen Rußland nach Westen hin durch die Dampfschiffahrt auf
dem Kaspischen Meere verbunden ist und sich, wenn erst Taschkend an eine der
sibirischen Bahnlinien Anschluß erhalten hat, auch von Osten her in enge Be-
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