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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Der in Köstritz verstorbne Hofrat Dr. Schottin, ein trefflicher Arzt und ein
Mann von klarem Geiste, tiefem Gemüt und liebenswürdiger Sitte, gab zu Anfang
1846 eine physiologische Abhandlung in lateinischer Sprache heraus, in der er an
verschiednen Phänomenen nachzuweisen sucht, wie die magnetische elektrisch-chemische
Kraft des Äthers Leben weckend ans die Materie wirke. Zu diese" Phänomenen
zählt er auch das zuckende Blutkügelchen, deu hüpfenden Punkt eines bebrüteten
Eies, und bemerkt dabei, daß sich auch hierin jene Zentralkraft wirksam zeige, von
der man gelten lassen könne, was von der Weltseele gesagt werde:

Schottin sandte diese Abhandlung feinen "licht- und wärmereichen Freunden"
zu, unter die er auch den Professor Gottfried Hermann in Leipzig zählen durfte.
Hermann wurde durch die griechischen Verse überrascht, und zwar ulu so mehr, als
er weder für den Augenblick noch später herausbringen konnte, welchem griechischen
Dichter das inhaltsschwere Zitat angehören möchte. Endlich wurde ihm das Rätsel
dnrch Hofrnt Seidler gelöst, an den sich Hermann deshalb gewandt hatte. Dieser
bekannte Philolog August Seidler,*) ein ausgezeichneter Schüler Hermanns, der
von 1816 bis 1824 Professor der klassischen Philologie in Halle gewesen war
und sich dann ans seinen Landsitz nach Krossen (zwischen Köstritz und Zeitz ge¬
legen) zurückgezogen hatte, nahm an deu physiologischen Studien Schottins, wie auch
an der Entwicklung der Altertumswissenschaft den lebendigsten Anteil und hatte
auch das Erscheinen der Abhandlung Schottins veranlaßt. In dem ihm on>r dem
Druck mitgeteilten Manuskripte hatte Schottin die betreffende Stelle mit Goethes
Faust deutsch und wörtlich zitiert; Seidler aber machte sich den Spaß, des Erd¬
geists erhabne Schilderung seiner gewaltigen Natur und vielgestaltige" Wirksamkeit
in das vorliegende altgriechische Gewand zu kleiden. Hermann mußte herzlich lachen
und bekannte mit Vergnügen, daß er von dem Krossener Mephisto in der an¬
mutigsten Weise mystifiziert worden sei. Am nächsten Kirchweihfeste wurde Hofrat
Seidler von einem befreundeten Landpfnrrer, der der Schelmerei zuerst auf die
Spur gekommen war, mit dem Toaste begrüßt:


G. Lothholz





Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
") August Seidler schrieb 6o vorsidus <IooKmi"vis trsKioonim xriwovrum x-u-s xrior
1811, purs' xostorior 1812 und gab heraus des Euripides Lro",I"s 1812, lAovtr" Is 13,
IxtuMniu. wurio-t 1813. Seidler starb am 14. Dezember 1851 in Leipzig. Vgl. über Seidler
Bursians Geschichte der klassische" Philologie 11. Bd., S. 725.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Der in Köstritz verstorbne Hofrat Dr. Schottin, ein trefflicher Arzt und ein
Mann von klarem Geiste, tiefem Gemüt und liebenswürdiger Sitte, gab zu Anfang
1846 eine physiologische Abhandlung in lateinischer Sprache heraus, in der er an
verschiednen Phänomenen nachzuweisen sucht, wie die magnetische elektrisch-chemische
Kraft des Äthers Leben weckend ans die Materie wirke. Zu diese» Phänomenen
zählt er auch das zuckende Blutkügelchen, deu hüpfenden Punkt eines bebrüteten
Eies, und bemerkt dabei, daß sich auch hierin jene Zentralkraft wirksam zeige, von
der man gelten lassen könne, was von der Weltseele gesagt werde:

Schottin sandte diese Abhandlung feinen „licht- und wärmereichen Freunden"
zu, unter die er auch den Professor Gottfried Hermann in Leipzig zählen durfte.
Hermann wurde durch die griechischen Verse überrascht, und zwar ulu so mehr, als
er weder für den Augenblick noch später herausbringen konnte, welchem griechischen
Dichter das inhaltsschwere Zitat angehören möchte. Endlich wurde ihm das Rätsel
dnrch Hofrnt Seidler gelöst, an den sich Hermann deshalb gewandt hatte. Dieser
bekannte Philolog August Seidler,*) ein ausgezeichneter Schüler Hermanns, der
von 1816 bis 1824 Professor der klassischen Philologie in Halle gewesen war
und sich dann ans seinen Landsitz nach Krossen (zwischen Köstritz und Zeitz ge¬
legen) zurückgezogen hatte, nahm an deu physiologischen Studien Schottins, wie auch
an der Entwicklung der Altertumswissenschaft den lebendigsten Anteil und hatte
auch das Erscheinen der Abhandlung Schottins veranlaßt. In dem ihm on>r dem
Druck mitgeteilten Manuskripte hatte Schottin die betreffende Stelle mit Goethes
Faust deutsch und wörtlich zitiert; Seidler aber machte sich den Spaß, des Erd¬
geists erhabne Schilderung seiner gewaltigen Natur und vielgestaltige» Wirksamkeit
in das vorliegende altgriechische Gewand zu kleiden. Hermann mußte herzlich lachen
und bekannte mit Vergnügen, daß er von dem Krossener Mephisto in der an¬
mutigsten Weise mystifiziert worden sei. Am nächsten Kirchweihfeste wurde Hofrat
Seidler von einem befreundeten Landpfnrrer, der der Schelmerei zuerst auf die
Spur gekommen war, mit dem Toaste begrüßt:


G. Lothholz





Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
") August Seidler schrieb 6o vorsidus <IooKmi»vis trsKioonim xriwovrum x-u-s xrior
1811, purs' xostorior 1812 und gab heraus des Euripides Lro»,I«s 1812, lAovtr» Is 13,
IxtuMniu. wurio-t 1813. Seidler starb am 14. Dezember 1851 in Leipzig. Vgl. über Seidler
Bursians Geschichte der klassische» Philologie 11. Bd., S. 725.
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[0392] Maßgebliches und Unmaßgebliches Der in Köstritz verstorbne Hofrat Dr. Schottin, ein trefflicher Arzt und ein Mann von klarem Geiste, tiefem Gemüt und liebenswürdiger Sitte, gab zu Anfang 1846 eine physiologische Abhandlung in lateinischer Sprache heraus, in der er an verschiednen Phänomenen nachzuweisen sucht, wie die magnetische elektrisch-chemische Kraft des Äthers Leben weckend ans die Materie wirke. Zu diese» Phänomenen zählt er auch das zuckende Blutkügelchen, deu hüpfenden Punkt eines bebrüteten Eies, und bemerkt dabei, daß sich auch hierin jene Zentralkraft wirksam zeige, von der man gelten lassen könne, was von der Weltseele gesagt werde: Schottin sandte diese Abhandlung feinen „licht- und wärmereichen Freunden" zu, unter die er auch den Professor Gottfried Hermann in Leipzig zählen durfte. Hermann wurde durch die griechischen Verse überrascht, und zwar ulu so mehr, als er weder für den Augenblick noch später herausbringen konnte, welchem griechischen Dichter das inhaltsschwere Zitat angehören möchte. Endlich wurde ihm das Rätsel dnrch Hofrnt Seidler gelöst, an den sich Hermann deshalb gewandt hatte. Dieser bekannte Philolog August Seidler,*) ein ausgezeichneter Schüler Hermanns, der von 1816 bis 1824 Professor der klassischen Philologie in Halle gewesen war und sich dann ans seinen Landsitz nach Krossen (zwischen Köstritz und Zeitz ge¬ legen) zurückgezogen hatte, nahm an deu physiologischen Studien Schottins, wie auch an der Entwicklung der Altertumswissenschaft den lebendigsten Anteil und hatte auch das Erscheinen der Abhandlung Schottins veranlaßt. In dem ihm on>r dem Druck mitgeteilten Manuskripte hatte Schottin die betreffende Stelle mit Goethes Faust deutsch und wörtlich zitiert; Seidler aber machte sich den Spaß, des Erd¬ geists erhabne Schilderung seiner gewaltigen Natur und vielgestaltige» Wirksamkeit in das vorliegende altgriechische Gewand zu kleiden. Hermann mußte herzlich lachen und bekannte mit Vergnügen, daß er von dem Krossener Mephisto in der an¬ mutigsten Weise mystifiziert worden sei. Am nächsten Kirchweihfeste wurde Hofrat Seidler von einem befreundeten Landpfnrrer, der der Schelmerei zuerst auf die Spur gekommen war, mit dem Toaste begrüßt: G. Lothholz Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig ") August Seidler schrieb 6o vorsidus <IooKmi»vis trsKioonim xriwovrum x-u-s xrior 1811, purs' xostorior 1812 und gab heraus des Euripides Lro»,I«s 1812, lAovtr» Is 13, IxtuMniu. wurio-t 1813. Seidler starb am 14. Dezember 1851 in Leipzig. Vgl. über Seidler Bursians Geschichte der klassische» Philologie 11. Bd., S. 725.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/392>, abgerufen am 15.01.2025.