Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches rechtigung und Pflicht der Kirche zur Mitarbeit ein der sozialen Frage aus dem Wohin nun soll es führen, wenn es der evangelisch-sozialen Agitation gelingt, Es erscheint nun freilich, Gott sei Dank, ganz ausgeschlossen, daß die evan¬ Wer die Arbeiterverhältnisse kennt, wie dies bei der Mehrzahl der Geistlichen Vielleicht sind sich die Evangelisch-sozialen darüber klar und behalten ihre Maßgebliches und Unmaßgebliches rechtigung und Pflicht der Kirche zur Mitarbeit ein der sozialen Frage aus dem Wohin nun soll es führen, wenn es der evangelisch-sozialen Agitation gelingt, Es erscheint nun freilich, Gott sei Dank, ganz ausgeschlossen, daß die evan¬ Wer die Arbeiterverhältnisse kennt, wie dies bei der Mehrzahl der Geistlichen Vielleicht sind sich die Evangelisch-sozialen darüber klar und behalten ihre <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0390" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231560"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1268" prev="#ID_1267"> rechtigung und Pflicht der Kirche zur Mitarbeit ein der sozialen Frage aus dem<lb/> Evangelium herzuleiten, der Nächstenliebe, wie sie das Evangelium gelehrt hat,<lb/> uicht mit einem Worte zu gedenken für nötig hält, sondern nur die Wertschätzung<lb/> der wirtschaftliche», auch der „gemeinen am kunstlosen Stoff haftenden" Arbeit und<lb/> die „prinzipielle Gleichstellung aller" als das christliche Fundament für die soziale<lb/> Aufgabe der Kirche und die Fehde gegen das patriarchalische System als einziges<lb/> Kennzeichen dieser Aufgabe zu nennen weiß. Naumann übersetzt diese Fehde gegen<lb/> das patriarchalische Shstem mit Recht in das Verlangen nach Koalitionsfreiheit der<lb/> Arbeiter, womit er selbstverständlich nur die Benutzung dieser Freiheit zur thatsäch¬<lb/> lichen, allgemein durchzuführenden Koalition der Arbeiter meinen kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_1269"> Wohin nun soll es führen, wenn es der evangelisch-sozialen Agitation gelingt,<lb/> die Kirche dazu zu bestimmen, daß sie durch das Mittel „der Verkündigung und des<lb/> Unterrichts" für diese Sozialreform eintritt? Was müssen die praktischen Konse¬<lb/> quenzen dieser vom Kongreß gebilligten evangelisch-sozialen Agitation sein? Sie<lb/> können zunächst in nichts anderen besteh», als in der Erregung des sozialen Kampfs,<lb/> wo »och Friede herrscht, und in seiner Verschärfung, wo er schon entbrannt ist,<lb/> und diese Friedensstvrerrolle soll die Kirche selbst übernehmen mit dem Feldgeschrei:<lb/> „Gott will es!"</p><lb/> <p xml:id="ID_1270"> Es erscheint nun freilich, Gott sei Dank, ganz ausgeschlossen, daß die evan¬<lb/> gelische Kirche, oder vielmehr daß sich die evangelischen Geistlichen, die in den<lb/> Gemeinden ihres Amts walte», auch »ur zum kleinen Teil zu Schnrern des<lb/> soziale» Kampfs im Sinne des Evangelisch-soziale» Kongresses hergeben werden.<lb/> Aber die Thatsache n» sich, daß dieser Kongreß dazu gelangt ist, ihnen diese<lb/> Friedensstörerrolle zuzumuten, ist doch eigentlich so ungeheuerlich, daß sich die<lb/> evangelische Kirche der Pflicht des allerentschiedeusten Protestes nicht länger wird<lb/> entziehen dürfen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1271"> Wer die Arbeiterverhältnisse kennt, wie dies bei der Mehrzahl der Geistlichen<lb/> anzunehmen ist, und ohne Voreingenommenheit beurteilt, wird zugeben, daß die<lb/> Pflege, Erhaltung und Wiederherstellung „patriarchalischer" Beziehungen zwischen<lb/> Arbeitern und Arbeitgebern, zwischen Nichtbesitzenden und Wohlhabenden, zwischen<lb/> weniger Gebildeten und Gebildeten! noch heute, ja gerade heute in sehr weitem<lb/> Umfange geboten ist, wenn dem sozialen Elend, dem wirtschaftlichen und sittlichen<lb/> Verfall im Volke vorgebeugt werdeu und die erwünschte „Hebung" der untern<lb/> Schichten überhaupt ermöglicht werden soll. Nicht einmal die patriarchalische „Be¬<lb/> vormundung" ist zu entbehren. Man sehe sich doch die Zustände in der Landwirt¬<lb/> schaft an, dann die im Handwerk, überall die Lage der Lehrlinge und jugendlichen<lb/> Arbeiter. Ist es uicht eine Ungeheuerlichkeit, der Kirche und den Geistlichen zu¬<lb/> zumuten, die patriarchalischen Beziehungen hier grundsätzlich zu bekämpfen und zu<lb/> zerstören? Kommt nicht gerade jetzt sehr viel darauf an, den Arbeitgebern und<lb/> überhaupt den besitzenden Klassen ihre patriarchalischen Pflichten wieder einzuschärfen,<lb/> sie ihnen lieb und wert zu machen? Und wenn Theoretiker diese patriarchalischen<lb/> Beziehungen für überlebt, rückständig, unhaltbar bezeichnen, dürfen dann die prak¬<lb/> tischen Volkserzieher, die Geistlichen, diesen Theorien auf ihre Verkündigung und ihre»<lb/> Unterricht El»si»ß geben, wenn nicht klar nachgewiesen ist, was um Stelle der<lb/> Patriarchalischen Beziehungen treten soll und sofort treten kann, und daß das nicht<lb/> nnr ein voller Ersatz, sondern ein Fortschritt ist? Nur Narren verbrennen ihr alt¬<lb/> modisches Haus, wenn sie kein neumodisches haben können. In der That, es ist<lb/> eine große Narrheit, die Kirche zum Abbruch der bestehenden sozialen Ordnung<lb/> aufzurufen, wenn man sich noch nicht über die neue klar ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1272" next="#ID_1273"> Vielleicht sind sich die Evangelisch-sozialen darüber klar und behalten ihre</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0390]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
rechtigung und Pflicht der Kirche zur Mitarbeit ein der sozialen Frage aus dem
Evangelium herzuleiten, der Nächstenliebe, wie sie das Evangelium gelehrt hat,
uicht mit einem Worte zu gedenken für nötig hält, sondern nur die Wertschätzung
der wirtschaftliche», auch der „gemeinen am kunstlosen Stoff haftenden" Arbeit und
die „prinzipielle Gleichstellung aller" als das christliche Fundament für die soziale
Aufgabe der Kirche und die Fehde gegen das patriarchalische System als einziges
Kennzeichen dieser Aufgabe zu nennen weiß. Naumann übersetzt diese Fehde gegen
das patriarchalische Shstem mit Recht in das Verlangen nach Koalitionsfreiheit der
Arbeiter, womit er selbstverständlich nur die Benutzung dieser Freiheit zur thatsäch¬
lichen, allgemein durchzuführenden Koalition der Arbeiter meinen kann.
Wohin nun soll es führen, wenn es der evangelisch-sozialen Agitation gelingt,
die Kirche dazu zu bestimmen, daß sie durch das Mittel „der Verkündigung und des
Unterrichts" für diese Sozialreform eintritt? Was müssen die praktischen Konse¬
quenzen dieser vom Kongreß gebilligten evangelisch-sozialen Agitation sein? Sie
können zunächst in nichts anderen besteh», als in der Erregung des sozialen Kampfs,
wo »och Friede herrscht, und in seiner Verschärfung, wo er schon entbrannt ist,
und diese Friedensstvrerrolle soll die Kirche selbst übernehmen mit dem Feldgeschrei:
„Gott will es!"
Es erscheint nun freilich, Gott sei Dank, ganz ausgeschlossen, daß die evan¬
gelische Kirche, oder vielmehr daß sich die evangelischen Geistlichen, die in den
Gemeinden ihres Amts walte», auch »ur zum kleinen Teil zu Schnrern des
soziale» Kampfs im Sinne des Evangelisch-soziale» Kongresses hergeben werden.
Aber die Thatsache n» sich, daß dieser Kongreß dazu gelangt ist, ihnen diese
Friedensstörerrolle zuzumuten, ist doch eigentlich so ungeheuerlich, daß sich die
evangelische Kirche der Pflicht des allerentschiedeusten Protestes nicht länger wird
entziehen dürfen.
Wer die Arbeiterverhältnisse kennt, wie dies bei der Mehrzahl der Geistlichen
anzunehmen ist, und ohne Voreingenommenheit beurteilt, wird zugeben, daß die
Pflege, Erhaltung und Wiederherstellung „patriarchalischer" Beziehungen zwischen
Arbeitern und Arbeitgebern, zwischen Nichtbesitzenden und Wohlhabenden, zwischen
weniger Gebildeten und Gebildeten! noch heute, ja gerade heute in sehr weitem
Umfange geboten ist, wenn dem sozialen Elend, dem wirtschaftlichen und sittlichen
Verfall im Volke vorgebeugt werdeu und die erwünschte „Hebung" der untern
Schichten überhaupt ermöglicht werden soll. Nicht einmal die patriarchalische „Be¬
vormundung" ist zu entbehren. Man sehe sich doch die Zustände in der Landwirt¬
schaft an, dann die im Handwerk, überall die Lage der Lehrlinge und jugendlichen
Arbeiter. Ist es uicht eine Ungeheuerlichkeit, der Kirche und den Geistlichen zu¬
zumuten, die patriarchalischen Beziehungen hier grundsätzlich zu bekämpfen und zu
zerstören? Kommt nicht gerade jetzt sehr viel darauf an, den Arbeitgebern und
überhaupt den besitzenden Klassen ihre patriarchalischen Pflichten wieder einzuschärfen,
sie ihnen lieb und wert zu machen? Und wenn Theoretiker diese patriarchalischen
Beziehungen für überlebt, rückständig, unhaltbar bezeichnen, dürfen dann die prak¬
tischen Volkserzieher, die Geistlichen, diesen Theorien auf ihre Verkündigung und ihre»
Unterricht El»si»ß geben, wenn nicht klar nachgewiesen ist, was um Stelle der
Patriarchalischen Beziehungen treten soll und sofort treten kann, und daß das nicht
nnr ein voller Ersatz, sondern ein Fortschritt ist? Nur Narren verbrennen ihr alt¬
modisches Haus, wenn sie kein neumodisches haben können. In der That, es ist
eine große Narrheit, die Kirche zum Abbruch der bestehenden sozialen Ordnung
aufzurufen, wenn man sich noch nicht über die neue klar ist.
Vielleicht sind sich die Evangelisch-sozialen darüber klar und behalten ihre
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