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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Thüringer Märchen

gestraft worden. Es war ein Jammer, wenn der Bartel in den Wald kam. Da
mußte mancher Baum bluten.

Im tiefen dunkeln Wald kam er einmal an der Laube der Hexe Akris vorbei.
So hieß die Hexe, weil sie Flügel hatte wie eine Heuschrecke, aber größer, wie sie
sich eben für eine Hexe schicken. Misch! flog ein Fetzen Rinde weg von einem
stolzen Acer oder Ahornbaum, unter den sich die Hexe gern setzte, wenn sie sich
Strümpfe strickte oder ihre Flügel ausbesserte. Wütend schoß die alte Heuschrecke
ans ihrer Laube heraus, daß der Bartel einen Satz machte so hoch wie ein
Backhänschen, und die Angst ihn trieb, so schnell er nur laufen konnte. Die
Hexe schwirrte hinter ihm drein wie ein Stein aus der Schleuder. Und dabei
kreischte sie:

Da wurden dem Baumschinder die Beine immer schwerer und schwerer, als
hinge an jedem Fuße ein großer Klumpen Erde. Und er stand still und wurde
starr wie ein Holzklotz. Aus seinen Füßen wuchsen Wurzeln tief in die Erde
hinein. Da war an ein Ausreißen nimmer zu denken; die Arme zog es ihm in
die Höhe gleich Baumästen. Und der Holzklotz wuchs durch den Kopf und die
Pechkappe hindurch immer höher und höher zu einem Baumstamm. Und überall
kamen Äste heraus, und auch aus den Armen, aus denen die dicksten Äste wurden.
Aus den Kleidern wurde Ahornrinde; es wuchsen überall Zweige hervor mit
Blättern, alles nach der Art des Ahorn. Am Ende stand ein richtiger Ahorn da,
und die Luft spielte in den Blättern, und ein Fink und eine Amsel setzten sich in
die Krone und sangen ihre Lieder. Die Hexe aber stand davor und schwirrte ver¬
gnügt mit den alten geflickten Flügeln und fing auch an zu singen:

Wohl hundert Jahre stand der Bartel als ein Ahvrnbcmm im tiefen dunkeln
Wald. Und wenn die Hexe Akris an ihm vorbeiging, sang sie:

Und dann kicherte sie, daß der Bartel-Ahorn vor Wut brauste. Und dann lachte
die Akris hell ans und wackelte mit dem Kopfe und schwirrte mit den Flügeln, daß
der Hase aus seinem Lager fuhr, und der Eichelhäher scheu wurde wie vor einem
Jagdhund und schrie:




Thüringer Märchen

gestraft worden. Es war ein Jammer, wenn der Bartel in den Wald kam. Da
mußte mancher Baum bluten.

Im tiefen dunkeln Wald kam er einmal an der Laube der Hexe Akris vorbei.
So hieß die Hexe, weil sie Flügel hatte wie eine Heuschrecke, aber größer, wie sie
sich eben für eine Hexe schicken. Misch! flog ein Fetzen Rinde weg von einem
stolzen Acer oder Ahornbaum, unter den sich die Hexe gern setzte, wenn sie sich
Strümpfe strickte oder ihre Flügel ausbesserte. Wütend schoß die alte Heuschrecke
ans ihrer Laube heraus, daß der Bartel einen Satz machte so hoch wie ein
Backhänschen, und die Angst ihn trieb, so schnell er nur laufen konnte. Die
Hexe schwirrte hinter ihm drein wie ein Stein aus der Schleuder. Und dabei
kreischte sie:

Da wurden dem Baumschinder die Beine immer schwerer und schwerer, als
hinge an jedem Fuße ein großer Klumpen Erde. Und er stand still und wurde
starr wie ein Holzklotz. Aus seinen Füßen wuchsen Wurzeln tief in die Erde
hinein. Da war an ein Ausreißen nimmer zu denken; die Arme zog es ihm in
die Höhe gleich Baumästen. Und der Holzklotz wuchs durch den Kopf und die
Pechkappe hindurch immer höher und höher zu einem Baumstamm. Und überall
kamen Äste heraus, und auch aus den Armen, aus denen die dicksten Äste wurden.
Aus den Kleidern wurde Ahornrinde; es wuchsen überall Zweige hervor mit
Blättern, alles nach der Art des Ahorn. Am Ende stand ein richtiger Ahorn da,
und die Luft spielte in den Blättern, und ein Fink und eine Amsel setzten sich in
die Krone und sangen ihre Lieder. Die Hexe aber stand davor und schwirrte ver¬
gnügt mit den alten geflickten Flügeln und fing auch an zu singen:

Wohl hundert Jahre stand der Bartel als ein Ahvrnbcmm im tiefen dunkeln
Wald. Und wenn die Hexe Akris an ihm vorbeiging, sang sie:

Und dann kicherte sie, daß der Bartel-Ahorn vor Wut brauste. Und dann lachte
die Akris hell ans und wackelte mit dem Kopfe und schwirrte mit den Flügeln, daß
der Hase aus seinem Lager fuhr, und der Eichelhäher scheu wurde wie vor einem
Jagdhund und schrie:




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[0384] Thüringer Märchen gestraft worden. Es war ein Jammer, wenn der Bartel in den Wald kam. Da mußte mancher Baum bluten. Im tiefen dunkeln Wald kam er einmal an der Laube der Hexe Akris vorbei. So hieß die Hexe, weil sie Flügel hatte wie eine Heuschrecke, aber größer, wie sie sich eben für eine Hexe schicken. Misch! flog ein Fetzen Rinde weg von einem stolzen Acer oder Ahornbaum, unter den sich die Hexe gern setzte, wenn sie sich Strümpfe strickte oder ihre Flügel ausbesserte. Wütend schoß die alte Heuschrecke ans ihrer Laube heraus, daß der Bartel einen Satz machte so hoch wie ein Backhänschen, und die Angst ihn trieb, so schnell er nur laufen konnte. Die Hexe schwirrte hinter ihm drein wie ein Stein aus der Schleuder. Und dabei kreischte sie: Da wurden dem Baumschinder die Beine immer schwerer und schwerer, als hinge an jedem Fuße ein großer Klumpen Erde. Und er stand still und wurde starr wie ein Holzklotz. Aus seinen Füßen wuchsen Wurzeln tief in die Erde hinein. Da war an ein Ausreißen nimmer zu denken; die Arme zog es ihm in die Höhe gleich Baumästen. Und der Holzklotz wuchs durch den Kopf und die Pechkappe hindurch immer höher und höher zu einem Baumstamm. Und überall kamen Äste heraus, und auch aus den Armen, aus denen die dicksten Äste wurden. Aus den Kleidern wurde Ahornrinde; es wuchsen überall Zweige hervor mit Blättern, alles nach der Art des Ahorn. Am Ende stand ein richtiger Ahorn da, und die Luft spielte in den Blättern, und ein Fink und eine Amsel setzten sich in die Krone und sangen ihre Lieder. Die Hexe aber stand davor und schwirrte ver¬ gnügt mit den alten geflickten Flügeln und fing auch an zu singen: Wohl hundert Jahre stand der Bartel als ein Ahvrnbcmm im tiefen dunkeln Wald. Und wenn die Hexe Akris an ihm vorbeiging, sang sie: Und dann kicherte sie, daß der Bartel-Ahorn vor Wut brauste. Und dann lachte die Akris hell ans und wackelte mit dem Kopfe und schwirrte mit den Flügeln, daß der Hase aus seinem Lager fuhr, und der Eichelhäher scheu wurde wie vor einem Jagdhund und schrie:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/384>, abgerufen am 15.01.2025.