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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Deutsche Kinderlieder und Kinderspiele

auf diese die ursprünglich anders gemeinten Verse angewandt habe". Ihre Ver¬
breitung läßt sich auch sonst durch ganz Deutschland verfolgen, aber ich will nur
noch eine spaßhafte Verwendung berühren, aus dem Salzburgischen, i) Da ant¬
wortet einer auf die Frage, wo er so lange gewesen sei:

So kann dem Volke im Laufe langer Zeiten ein Gegenstand des Aberglaubens,
des Spiels und schließlich albernen Scherzes werden, unbewußt natürlich, was
ehedem einmal Gegenstand seines Glaubens, seiner Furcht oder Verehrung gewesen
sein muß. Und so führt uns die Geschichte ein solches Liedche" wie "Lott ist tot"
rückwärts über viele Jahrhunderte bis in die Vorzeit.

Aber bereitwilliger und zuversichtlicher wird man mir wahrscheinlich in so
entlegne Vorzeit folgen, wenn der Sprung, den wir machen müssen, nicht so wage¬
halsig weit ist und wir unsern Anlauf nicht wie bei dem zuletzt betrachtete" ganz
neumodischen Liedche" fast von der Gegenwart nehmen müssen, sondern von einer
schon um mehrere Jahrhunderte zurückliegenden Vergangenheit. Diesen Vorteil bietet
z. B. folgendes im westlichen Niederdeutschland 2) bekannte Kinderspiel. Es besteht
ganz einfach darin, daß man einen aufrecht gestellten Klotz oder auch den König
des Kegelspiels mit Knütteln oder den übrigen Kegeln beschießt und umzustürzen
sucht. Der Name des Spiels und der dazu gehörige Spielreim aber verrät sofort
die Zeit, der diese Gestalt des Spiels entsprungen ist. Man nennt nämlich den
als Ziel dienenden Gegenstand einen Munk oder Munkel, also Mönch oder
Mönchlein, und der zum harmlosen Kinderspiel in eigentümlichem Gegensatze stehende
Reim:

beleuchtet mit grelle," Streiflichte den Ingrimm des Volkes über die Entsittlichung
der Geistlichen, der im Jahrhundert vor Luther immer wieder und lauter Stimme,
aber vergeblich nach Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern rief.

Dieses Spiel aber hatte schon damals eine lange Geschichte hinter sich, und
eine ältere Gestalt davon wird sich ohne weiteres aus folgendem Berichte") er¬
geben. Nicht weit von Hildesheim liegt ein Dorf Algermissen. Dies war bis
ins achtzehnte Jahrhundert zu einer Geldabgabe an die Hildesheimer Domkirche
verpflichtet, mit der sich ein merkwürdiger Gebrauch verband. Alljährlich nämlich
ein bestimmtem Tage mußte ein Bauer des Dorfes einen Klotz von bestimmter
Größe in einem Sacke auf deu Domhof bringen und dort aufstellen. Dann wurde
dieser Klotz von den Schülern mit Mantel und Krone geschmückt und danach mit





') Si'es !), 32.
2) Bei Handelmann, Volks- und Kinderspiele aus Schleswig-Holstein. Kiel, 1874.
2. Aufl., Ur. 123.
°
) I. Grimm, Mythologie 4. Auflage I, 1Ü8. II, 6S3. III, 70.
Deutsche Kinderlieder und Kinderspiele

auf diese die ursprünglich anders gemeinten Verse angewandt habe». Ihre Ver¬
breitung läßt sich auch sonst durch ganz Deutschland verfolgen, aber ich will nur
noch eine spaßhafte Verwendung berühren, aus dem Salzburgischen, i) Da ant¬
wortet einer auf die Frage, wo er so lange gewesen sei:

So kann dem Volke im Laufe langer Zeiten ein Gegenstand des Aberglaubens,
des Spiels und schließlich albernen Scherzes werden, unbewußt natürlich, was
ehedem einmal Gegenstand seines Glaubens, seiner Furcht oder Verehrung gewesen
sein muß. Und so führt uns die Geschichte ein solches Liedche» wie „Lott ist tot"
rückwärts über viele Jahrhunderte bis in die Vorzeit.

Aber bereitwilliger und zuversichtlicher wird man mir wahrscheinlich in so
entlegne Vorzeit folgen, wenn der Sprung, den wir machen müssen, nicht so wage¬
halsig weit ist und wir unsern Anlauf nicht wie bei dem zuletzt betrachtete» ganz
neumodischen Liedche» fast von der Gegenwart nehmen müssen, sondern von einer
schon um mehrere Jahrhunderte zurückliegenden Vergangenheit. Diesen Vorteil bietet
z. B. folgendes im westlichen Niederdeutschland 2) bekannte Kinderspiel. Es besteht
ganz einfach darin, daß man einen aufrecht gestellten Klotz oder auch den König
des Kegelspiels mit Knütteln oder den übrigen Kegeln beschießt und umzustürzen
sucht. Der Name des Spiels und der dazu gehörige Spielreim aber verrät sofort
die Zeit, der diese Gestalt des Spiels entsprungen ist. Man nennt nämlich den
als Ziel dienenden Gegenstand einen Munk oder Munkel, also Mönch oder
Mönchlein, und der zum harmlosen Kinderspiel in eigentümlichem Gegensatze stehende
Reim:

beleuchtet mit grelle,» Streiflichte den Ingrimm des Volkes über die Entsittlichung
der Geistlichen, der im Jahrhundert vor Luther immer wieder und lauter Stimme,
aber vergeblich nach Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern rief.

Dieses Spiel aber hatte schon damals eine lange Geschichte hinter sich, und
eine ältere Gestalt davon wird sich ohne weiteres aus folgendem Berichte») er¬
geben. Nicht weit von Hildesheim liegt ein Dorf Algermissen. Dies war bis
ins achtzehnte Jahrhundert zu einer Geldabgabe an die Hildesheimer Domkirche
verpflichtet, mit der sich ein merkwürdiger Gebrauch verband. Alljährlich nämlich
ein bestimmtem Tage mußte ein Bauer des Dorfes einen Klotz von bestimmter
Größe in einem Sacke auf deu Domhof bringen und dort aufstellen. Dann wurde
dieser Klotz von den Schülern mit Mantel und Krone geschmückt und danach mit





') Si'es !), 32.
2) Bei Handelmann, Volks- und Kinderspiele aus Schleswig-Holstein. Kiel, 1874.
2. Aufl., Ur. 123.
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) I. Grimm, Mythologie 4. Auflage I, 1Ü8. II, 6S3. III, 70.
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[0375] Deutsche Kinderlieder und Kinderspiele auf diese die ursprünglich anders gemeinten Verse angewandt habe». Ihre Ver¬ breitung läßt sich auch sonst durch ganz Deutschland verfolgen, aber ich will nur noch eine spaßhafte Verwendung berühren, aus dem Salzburgischen, i) Da ant¬ wortet einer auf die Frage, wo er so lange gewesen sei: So kann dem Volke im Laufe langer Zeiten ein Gegenstand des Aberglaubens, des Spiels und schließlich albernen Scherzes werden, unbewußt natürlich, was ehedem einmal Gegenstand seines Glaubens, seiner Furcht oder Verehrung gewesen sein muß. Und so führt uns die Geschichte ein solches Liedche» wie „Lott ist tot" rückwärts über viele Jahrhunderte bis in die Vorzeit. Aber bereitwilliger und zuversichtlicher wird man mir wahrscheinlich in so entlegne Vorzeit folgen, wenn der Sprung, den wir machen müssen, nicht so wage¬ halsig weit ist und wir unsern Anlauf nicht wie bei dem zuletzt betrachtete» ganz neumodischen Liedche» fast von der Gegenwart nehmen müssen, sondern von einer schon um mehrere Jahrhunderte zurückliegenden Vergangenheit. Diesen Vorteil bietet z. B. folgendes im westlichen Niederdeutschland 2) bekannte Kinderspiel. Es besteht ganz einfach darin, daß man einen aufrecht gestellten Klotz oder auch den König des Kegelspiels mit Knütteln oder den übrigen Kegeln beschießt und umzustürzen sucht. Der Name des Spiels und der dazu gehörige Spielreim aber verrät sofort die Zeit, der diese Gestalt des Spiels entsprungen ist. Man nennt nämlich den als Ziel dienenden Gegenstand einen Munk oder Munkel, also Mönch oder Mönchlein, und der zum harmlosen Kinderspiel in eigentümlichem Gegensatze stehende Reim: beleuchtet mit grelle,» Streiflichte den Ingrimm des Volkes über die Entsittlichung der Geistlichen, der im Jahrhundert vor Luther immer wieder und lauter Stimme, aber vergeblich nach Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern rief. Dieses Spiel aber hatte schon damals eine lange Geschichte hinter sich, und eine ältere Gestalt davon wird sich ohne weiteres aus folgendem Berichte») er¬ geben. Nicht weit von Hildesheim liegt ein Dorf Algermissen. Dies war bis ins achtzehnte Jahrhundert zu einer Geldabgabe an die Hildesheimer Domkirche verpflichtet, mit der sich ein merkwürdiger Gebrauch verband. Alljährlich nämlich ein bestimmtem Tage mußte ein Bauer des Dorfes einen Klotz von bestimmter Größe in einem Sacke auf deu Domhof bringen und dort aufstellen. Dann wurde dieser Klotz von den Schülern mit Mantel und Krone geschmückt und danach mit ') Si'es !), 32. 2) Bei Handelmann, Volks- und Kinderspiele aus Schleswig-Holstein. Kiel, 1874. 2. Aufl., Ur. 123. ° ) I. Grimm, Mythologie 4. Auflage I, 1Ü8. II, 6S3. III, 70.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/375>, abgerufen am 15.01.2025.