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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Briefe eines Zurückgekehrten
i

es habe gelernt, was Heimat heißt, und darin einen Schatz ge¬
funden, der mich reich macht, und in dessen Besitz ich nie wieder
arm werden kann. Ich könnte Amerika, und besonders einen
westlichen Staat der Union, dessen Name nichts zur Sache thut,
fast ebenso gut mein Vaterland nennen, wie Europa und be¬
sonders einen gewissen südlichen Staat Deutschlands, wenn ich nämlich nach
der Zahl der Jahre rechnete, die ich in beiden gelebt habe. Aber solange ich
drüben war, habe ich mit sehnsüchtigem Herzen an dem Lande, an dem Dorfe,
um der Hütte der Heimat gehangen. Den Tag über übertäubte die Aufregung
des kämpfenden Lebens jeden Gedanken, der nicht den nächsten oft drängenden
Aufgaben gewidmet war, aber die Nacht, die alle Entfernungen auslöscht,
führte meine Seele in die Heimat zurück. Wer dieses doppelgeleisige Leben
nicht kennt, kann sich keine Vorstellung von der beständigen Paarung und
Durchkreuzung der Gedanken von hier und von dort machen. Der Hudson
und der Rhein, die White Mountains und der Schwarzwald, das Felsen¬
gebirge und die Alpen, die Legislatur und der Landtag, der Kongreß und der
Reichstag, der Präsident und der Kaiser, und so weiter bis zur Scharlacheiche
und Steineiche, zur Catawbatraube und zum Riesling, und hinunter bis zum
Vier von Milwaukee und von München: dieses gedoppelte Denken, das ewig
nebeneinanderstellt und -drängt und vergleicht, muß natürlich auf einer Seite
endlich ein Minus finden. Die Mehrzahl wird von der bunten Gegenwart
besiegt, die Erinnerungen verblassen, sie sind endlich um noch der fast un¬
wirklich bläuende Hintergrund für die Szenen von heute und gestern. Die
Minderzahl kämpft die Stärke der frischen Eindrücke nieder und läßt sie gar
nicht bis an die Erinnerungen herankommen, die an geschützter Stelle weiter-
'


Grmzbotm III 1899 , ^


Briefe eines Zurückgekehrten
i

es habe gelernt, was Heimat heißt, und darin einen Schatz ge¬
funden, der mich reich macht, und in dessen Besitz ich nie wieder
arm werden kann. Ich könnte Amerika, und besonders einen
westlichen Staat der Union, dessen Name nichts zur Sache thut,
fast ebenso gut mein Vaterland nennen, wie Europa und be¬
sonders einen gewissen südlichen Staat Deutschlands, wenn ich nämlich nach
der Zahl der Jahre rechnete, die ich in beiden gelebt habe. Aber solange ich
drüben war, habe ich mit sehnsüchtigem Herzen an dem Lande, an dem Dorfe,
um der Hütte der Heimat gehangen. Den Tag über übertäubte die Aufregung
des kämpfenden Lebens jeden Gedanken, der nicht den nächsten oft drängenden
Aufgaben gewidmet war, aber die Nacht, die alle Entfernungen auslöscht,
führte meine Seele in die Heimat zurück. Wer dieses doppelgeleisige Leben
nicht kennt, kann sich keine Vorstellung von der beständigen Paarung und
Durchkreuzung der Gedanken von hier und von dort machen. Der Hudson
und der Rhein, die White Mountains und der Schwarzwald, das Felsen¬
gebirge und die Alpen, die Legislatur und der Landtag, der Kongreß und der
Reichstag, der Präsident und der Kaiser, und so weiter bis zur Scharlacheiche
und Steineiche, zur Catawbatraube und zum Riesling, und hinunter bis zum
Vier von Milwaukee und von München: dieses gedoppelte Denken, das ewig
nebeneinanderstellt und -drängt und vergleicht, muß natürlich auf einer Seite
endlich ein Minus finden. Die Mehrzahl wird von der bunten Gegenwart
besiegt, die Erinnerungen verblassen, sie sind endlich um noch der fast un¬
wirklich bläuende Hintergrund für die Szenen von heute und gestern. Die
Minderzahl kämpft die Stärke der frischen Eindrücke nieder und läßt sie gar
nicht bis an die Erinnerungen herankommen, die an geschützter Stelle weiter-
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[0345] [Abbildung] Briefe eines Zurückgekehrten i es habe gelernt, was Heimat heißt, und darin einen Schatz ge¬ funden, der mich reich macht, und in dessen Besitz ich nie wieder arm werden kann. Ich könnte Amerika, und besonders einen westlichen Staat der Union, dessen Name nichts zur Sache thut, fast ebenso gut mein Vaterland nennen, wie Europa und be¬ sonders einen gewissen südlichen Staat Deutschlands, wenn ich nämlich nach der Zahl der Jahre rechnete, die ich in beiden gelebt habe. Aber solange ich drüben war, habe ich mit sehnsüchtigem Herzen an dem Lande, an dem Dorfe, um der Hütte der Heimat gehangen. Den Tag über übertäubte die Aufregung des kämpfenden Lebens jeden Gedanken, der nicht den nächsten oft drängenden Aufgaben gewidmet war, aber die Nacht, die alle Entfernungen auslöscht, führte meine Seele in die Heimat zurück. Wer dieses doppelgeleisige Leben nicht kennt, kann sich keine Vorstellung von der beständigen Paarung und Durchkreuzung der Gedanken von hier und von dort machen. Der Hudson und der Rhein, die White Mountains und der Schwarzwald, das Felsen¬ gebirge und die Alpen, die Legislatur und der Landtag, der Kongreß und der Reichstag, der Präsident und der Kaiser, und so weiter bis zur Scharlacheiche und Steineiche, zur Catawbatraube und zum Riesling, und hinunter bis zum Vier von Milwaukee und von München: dieses gedoppelte Denken, das ewig nebeneinanderstellt und -drängt und vergleicht, muß natürlich auf einer Seite endlich ein Minus finden. Die Mehrzahl wird von der bunten Gegenwart besiegt, die Erinnerungen verblassen, sie sind endlich um noch der fast un¬ wirklich bläuende Hintergrund für die Szenen von heute und gestern. Die Minderzahl kämpft die Stärke der frischen Eindrücke nieder und läßt sie gar nicht bis an die Erinnerungen herankommen, die an geschützter Stelle weiter- ' Grmzbotm III 1899 , ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/345>, abgerufen am 15.01.2025.