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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Deutsche Kinderlieder und Kinderspiele

man für einzelne Kinderlieder längst gewöhnt, weil wir sie auch außerhalb der
Grenzen Deutschlands im ganzen Bereiche germanischen Sprachgebiets ausgebreitet
sehen und zwar so, daß spätere Übertragung ausgeschlossen ist. So sind unzweifel¬
haft viele unsrer Kinderlieder, ja vermutlich die Urformen der meisten nicht nnr im
zwölften Jahrhundert von den deutsche" Ansiedlern in die Slawenländer des Ostens
rechts von Saale und Elbe bis in das heutige Preußenland und Schlesien, wie
um dieselbe Zeit in das ungarische Erzgebirge und das siebenbürgische Land, auch von
den in den italienischen Alpenpässen hängen gebliebner Resten hvhenstaufischer Heer¬
haufen mitgenommen und teilweise bewahrt, sondern noch viele hundert Jahre zuvor
schon von den Wikingern ans ihrer skandinavischen, von Angeln und Sachsen aus
ihrer deutschen Heimat in die Fremde mitgeführt worden. Denn wie in Dänemark
und Skandinavien, so finden sich in Island und England ihre reichen Spuren bis
zum heutigen Tage.

Danach müssen also diese unscheinbaren Liedchen eine lange Geschichte hinter
sich haben. Und dabei läßt man sich ja wohl die Erklärung gefallen, daß sie sich
in deren Verlaufe natürlich immer verändert und erneuert haben, nud niemand
wird meinen, es hätten etwa Hengist und Horsa, wenn sie ihre Jungen auf den
Knieen schaukelten, dazu schon wörtlich gesungen:

Aber danach darf man gewiß fragen, ehe man an das hohe Alter glaubt, ob
sich denn nicht deutliche Spuren früherer Zeiten erhalten haben, und ob sich nicht
durch eine Vergleichung der Überlieferung verschiedener Landschaften wenigstens in
Bezug auf diesen oder jenen Kinderreim die Geschichte seiner Entwicklung rückwärts
verfolgen lasse.

Tragen doch genug in den uns zunächst liegenden Zeitabschnitten geformte un¬
verkennbar deren Stempel, und sei es anch nur durch äußerliche Anknüpfung an
bestimmte geschichtliche Ereignisse und Personen. So sangen mit verständlicher Be¬
ziehung auf ganz bestimmte Ereignisse des Umstnrzjahres 1848 die Kinder in
Schwaben:^

und in der benachbarten Schweiz:^

ebenda: ^)





1) Mein Ur. 78.
2) Baslerische Kinder- und Volksreime. Basel, Schweighauscrsche Buchhandlung. Ur. 126.
"
) Ur. 180.
Deutsche Kinderlieder und Kinderspiele

man für einzelne Kinderlieder längst gewöhnt, weil wir sie auch außerhalb der
Grenzen Deutschlands im ganzen Bereiche germanischen Sprachgebiets ausgebreitet
sehen und zwar so, daß spätere Übertragung ausgeschlossen ist. So sind unzweifel¬
haft viele unsrer Kinderlieder, ja vermutlich die Urformen der meisten nicht nnr im
zwölften Jahrhundert von den deutsche» Ansiedlern in die Slawenländer des Ostens
rechts von Saale und Elbe bis in das heutige Preußenland und Schlesien, wie
um dieselbe Zeit in das ungarische Erzgebirge und das siebenbürgische Land, auch von
den in den italienischen Alpenpässen hängen gebliebner Resten hvhenstaufischer Heer¬
haufen mitgenommen und teilweise bewahrt, sondern noch viele hundert Jahre zuvor
schon von den Wikingern ans ihrer skandinavischen, von Angeln und Sachsen aus
ihrer deutschen Heimat in die Fremde mitgeführt worden. Denn wie in Dänemark
und Skandinavien, so finden sich in Island und England ihre reichen Spuren bis
zum heutigen Tage.

Danach müssen also diese unscheinbaren Liedchen eine lange Geschichte hinter
sich haben. Und dabei läßt man sich ja wohl die Erklärung gefallen, daß sie sich
in deren Verlaufe natürlich immer verändert und erneuert haben, nud niemand
wird meinen, es hätten etwa Hengist und Horsa, wenn sie ihre Jungen auf den
Knieen schaukelten, dazu schon wörtlich gesungen:

Aber danach darf man gewiß fragen, ehe man an das hohe Alter glaubt, ob
sich denn nicht deutliche Spuren früherer Zeiten erhalten haben, und ob sich nicht
durch eine Vergleichung der Überlieferung verschiedener Landschaften wenigstens in
Bezug auf diesen oder jenen Kinderreim die Geschichte seiner Entwicklung rückwärts
verfolgen lasse.

Tragen doch genug in den uns zunächst liegenden Zeitabschnitten geformte un¬
verkennbar deren Stempel, und sei es anch nur durch äußerliche Anknüpfung an
bestimmte geschichtliche Ereignisse und Personen. So sangen mit verständlicher Be¬
ziehung auf ganz bestimmte Ereignisse des Umstnrzjahres 1848 die Kinder in
Schwaben:^

und in der benachbarten Schweiz:^

ebenda: ^)





1) Mein Ur. 78.
2) Baslerische Kinder- und Volksreime. Basel, Schweighauscrsche Buchhandlung. Ur. 126.
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) Ur. 180.
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[0335] Deutsche Kinderlieder und Kinderspiele man für einzelne Kinderlieder längst gewöhnt, weil wir sie auch außerhalb der Grenzen Deutschlands im ganzen Bereiche germanischen Sprachgebiets ausgebreitet sehen und zwar so, daß spätere Übertragung ausgeschlossen ist. So sind unzweifel¬ haft viele unsrer Kinderlieder, ja vermutlich die Urformen der meisten nicht nnr im zwölften Jahrhundert von den deutsche» Ansiedlern in die Slawenländer des Ostens rechts von Saale und Elbe bis in das heutige Preußenland und Schlesien, wie um dieselbe Zeit in das ungarische Erzgebirge und das siebenbürgische Land, auch von den in den italienischen Alpenpässen hängen gebliebner Resten hvhenstaufischer Heer¬ haufen mitgenommen und teilweise bewahrt, sondern noch viele hundert Jahre zuvor schon von den Wikingern ans ihrer skandinavischen, von Angeln und Sachsen aus ihrer deutschen Heimat in die Fremde mitgeführt worden. Denn wie in Dänemark und Skandinavien, so finden sich in Island und England ihre reichen Spuren bis zum heutigen Tage. Danach müssen also diese unscheinbaren Liedchen eine lange Geschichte hinter sich haben. Und dabei läßt man sich ja wohl die Erklärung gefallen, daß sie sich in deren Verlaufe natürlich immer verändert und erneuert haben, nud niemand wird meinen, es hätten etwa Hengist und Horsa, wenn sie ihre Jungen auf den Knieen schaukelten, dazu schon wörtlich gesungen: Aber danach darf man gewiß fragen, ehe man an das hohe Alter glaubt, ob sich denn nicht deutliche Spuren früherer Zeiten erhalten haben, und ob sich nicht durch eine Vergleichung der Überlieferung verschiedener Landschaften wenigstens in Bezug auf diesen oder jenen Kinderreim die Geschichte seiner Entwicklung rückwärts verfolgen lasse. Tragen doch genug in den uns zunächst liegenden Zeitabschnitten geformte un¬ verkennbar deren Stempel, und sei es anch nur durch äußerliche Anknüpfung an bestimmte geschichtliche Ereignisse und Personen. So sangen mit verständlicher Be¬ ziehung auf ganz bestimmte Ereignisse des Umstnrzjahres 1848 die Kinder in Schwaben:^ und in der benachbarten Schweiz:^ ebenda: ^) 1) Mein Ur. 78. 2) Baslerische Kinder- und Volksreime. Basel, Schweighauscrsche Buchhandlung. Ur. 126. » ) Ur. 180.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/335>, abgerufen am 15.01.2025.