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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Kritische Studien zu Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen

Setzung erwies sich als falsch, und also hatten Bismarck und Roon recht, wenn
sie von Anfang an auf die Beschießung drangen. Die Transportschwierigkeiten
beruhten nicht auf der mangelhaften Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen, sondern
auf den ungenügenden Vorkehrungen sür die Überführung der Munition vom
Endpunkte der Bahn nach den Batterien; diese aber hingen mit den An¬
schauungen des Oberkommandos der III. Armee über die Beschießungsfrage eng
zusammen. Insofern hatten auch hier Roon und Bismarck recht. Inwieweit
der Kronprinz und seine Umgebung in ihrem Urteile durch "humanitäre" Ein¬
flüsse hochgestellter Damen bestärkt worden sind und andre Offiziere wieder
durch die Rücksicht auf das Urteil des Thronfolgers, läßt sich im einzelnen
nicht nachweisen, schon weil uns diese Korrespondenz nicht zugänglich ist; daß
aber diese Einwirkungen, die von dem vor allem den Frauen natürlichen Ge¬
fühle der Menschlichkeit ausgingen, die militärischen Entschlüsse einer solchen
Anzahl hoher Offiziere veranlaßt haben sollten, ist nicht wohl denkbar. Die
Ansicht endlich von der Nutzlosigkeit oder Aussichtslosigkeit eines Angriffs auf
die Festungswerke vertritt auch jetzt noch Blume ^) mit dem Hinweise darauf,
daß die deutschen Batterien selbst um Mitte Januar noch immer 1500 Meter
von den angegriffnen Forts entfernt gewesen seien und die Franzosen auf dem
Hauptwalle eine überlegne Artillerie (auf der angegriffnen Südfront 600 Ge¬
schütze) entwickelt Hütten, die den Angriff zum Stehen gebracht habe, die Be¬
schießung der Stadt selbst aber (d. h. etwa ihres vierten Teils mit 200 bis 300
Granaten täglich) habe gar nichts genutzt. Dagegen waren nach Moltkes
Zeugnis die drei Südforts sast kampfunfähig gemacht, die Kasernen zerstört,
die Brustwehren zerschossen, die Geschütze meist demontiert, nur der Haupt¬
wall antwortete noch. Vollends auf die drei Forts von Se. Denis war die
Wirkung der nur sechstägigen Beschießung entscheidend, und "die ungenügende
Sturmsreiheit der stark beschädigten Werke schloß -- selbst gewaltsame Unter¬
nehmungen >also den förmlichen Angriffs nicht mehr aus." ^) "Einem förm¬
lichen Angriff hätten die Forts nur noch geringen Widerstand entgegensetzen
können. Die Stadtenceinte blieb zwar bis zum Ende thätig, im ganzen näherte
sich jedoch die artilleristische Verteidigung der Erschöpfung." Der Mont Avron
war sogar in einem Tage niedergekämpft worden. Also hatten die "Schießer,"
die sich ja nur auf die frühere Ansicht des Generalstabs gegen die spätere stützten,
doch schließlich Recht behalten. Nun hat Paris allerdings nicht wegen der
Beschießung kapituliert, sondern weil es ausgehungert war; aber wäre dieses
Ende nicht vielleicht früher herbeigeführt worden, wenn mit der Beschießung
vier bis sechs Wochen früher begonnen worden wäre?




') Beschießung von Paris 36 f.
-) Geschichte des deutsch-französischen Kriegs SS6f. 368 f. Generalstabswerk II, 2, 1173 ff.
Auch auf die frühern Gegner der Beschießung machten die Erfolge großen Eindruck, Wil-
inowski 80. Vismarckbriefe 46S (vom 4. Januar 1L71),
Kritische Studien zu Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen

Setzung erwies sich als falsch, und also hatten Bismarck und Roon recht, wenn
sie von Anfang an auf die Beschießung drangen. Die Transportschwierigkeiten
beruhten nicht auf der mangelhaften Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen, sondern
auf den ungenügenden Vorkehrungen sür die Überführung der Munition vom
Endpunkte der Bahn nach den Batterien; diese aber hingen mit den An¬
schauungen des Oberkommandos der III. Armee über die Beschießungsfrage eng
zusammen. Insofern hatten auch hier Roon und Bismarck recht. Inwieweit
der Kronprinz und seine Umgebung in ihrem Urteile durch „humanitäre" Ein¬
flüsse hochgestellter Damen bestärkt worden sind und andre Offiziere wieder
durch die Rücksicht auf das Urteil des Thronfolgers, läßt sich im einzelnen
nicht nachweisen, schon weil uns diese Korrespondenz nicht zugänglich ist; daß
aber diese Einwirkungen, die von dem vor allem den Frauen natürlichen Ge¬
fühle der Menschlichkeit ausgingen, die militärischen Entschlüsse einer solchen
Anzahl hoher Offiziere veranlaßt haben sollten, ist nicht wohl denkbar. Die
Ansicht endlich von der Nutzlosigkeit oder Aussichtslosigkeit eines Angriffs auf
die Festungswerke vertritt auch jetzt noch Blume ^) mit dem Hinweise darauf,
daß die deutschen Batterien selbst um Mitte Januar noch immer 1500 Meter
von den angegriffnen Forts entfernt gewesen seien und die Franzosen auf dem
Hauptwalle eine überlegne Artillerie (auf der angegriffnen Südfront 600 Ge¬
schütze) entwickelt Hütten, die den Angriff zum Stehen gebracht habe, die Be¬
schießung der Stadt selbst aber (d. h. etwa ihres vierten Teils mit 200 bis 300
Granaten täglich) habe gar nichts genutzt. Dagegen waren nach Moltkes
Zeugnis die drei Südforts sast kampfunfähig gemacht, die Kasernen zerstört,
die Brustwehren zerschossen, die Geschütze meist demontiert, nur der Haupt¬
wall antwortete noch. Vollends auf die drei Forts von Se. Denis war die
Wirkung der nur sechstägigen Beschießung entscheidend, und „die ungenügende
Sturmsreiheit der stark beschädigten Werke schloß — selbst gewaltsame Unter¬
nehmungen >also den förmlichen Angriffs nicht mehr aus." ^) „Einem förm¬
lichen Angriff hätten die Forts nur noch geringen Widerstand entgegensetzen
können. Die Stadtenceinte blieb zwar bis zum Ende thätig, im ganzen näherte
sich jedoch die artilleristische Verteidigung der Erschöpfung." Der Mont Avron
war sogar in einem Tage niedergekämpft worden. Also hatten die „Schießer,"
die sich ja nur auf die frühere Ansicht des Generalstabs gegen die spätere stützten,
doch schließlich Recht behalten. Nun hat Paris allerdings nicht wegen der
Beschießung kapituliert, sondern weil es ausgehungert war; aber wäre dieses
Ende nicht vielleicht früher herbeigeführt worden, wenn mit der Beschießung
vier bis sechs Wochen früher begonnen worden wäre?




') Beschießung von Paris 36 f.
-) Geschichte des deutsch-französischen Kriegs SS6f. 368 f. Generalstabswerk II, 2, 1173 ff.
Auch auf die frühern Gegner der Beschießung machten die Erfolge großen Eindruck, Wil-
inowski 80. Vismarckbriefe 46S (vom 4. Januar 1L71),
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[0306] Kritische Studien zu Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen Setzung erwies sich als falsch, und also hatten Bismarck und Roon recht, wenn sie von Anfang an auf die Beschießung drangen. Die Transportschwierigkeiten beruhten nicht auf der mangelhaften Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen, sondern auf den ungenügenden Vorkehrungen sür die Überführung der Munition vom Endpunkte der Bahn nach den Batterien; diese aber hingen mit den An¬ schauungen des Oberkommandos der III. Armee über die Beschießungsfrage eng zusammen. Insofern hatten auch hier Roon und Bismarck recht. Inwieweit der Kronprinz und seine Umgebung in ihrem Urteile durch „humanitäre" Ein¬ flüsse hochgestellter Damen bestärkt worden sind und andre Offiziere wieder durch die Rücksicht auf das Urteil des Thronfolgers, läßt sich im einzelnen nicht nachweisen, schon weil uns diese Korrespondenz nicht zugänglich ist; daß aber diese Einwirkungen, die von dem vor allem den Frauen natürlichen Ge¬ fühle der Menschlichkeit ausgingen, die militärischen Entschlüsse einer solchen Anzahl hoher Offiziere veranlaßt haben sollten, ist nicht wohl denkbar. Die Ansicht endlich von der Nutzlosigkeit oder Aussichtslosigkeit eines Angriffs auf die Festungswerke vertritt auch jetzt noch Blume ^) mit dem Hinweise darauf, daß die deutschen Batterien selbst um Mitte Januar noch immer 1500 Meter von den angegriffnen Forts entfernt gewesen seien und die Franzosen auf dem Hauptwalle eine überlegne Artillerie (auf der angegriffnen Südfront 600 Ge¬ schütze) entwickelt Hütten, die den Angriff zum Stehen gebracht habe, die Be¬ schießung der Stadt selbst aber (d. h. etwa ihres vierten Teils mit 200 bis 300 Granaten täglich) habe gar nichts genutzt. Dagegen waren nach Moltkes Zeugnis die drei Südforts sast kampfunfähig gemacht, die Kasernen zerstört, die Brustwehren zerschossen, die Geschütze meist demontiert, nur der Haupt¬ wall antwortete noch. Vollends auf die drei Forts von Se. Denis war die Wirkung der nur sechstägigen Beschießung entscheidend, und „die ungenügende Sturmsreiheit der stark beschädigten Werke schloß — selbst gewaltsame Unter¬ nehmungen >also den förmlichen Angriffs nicht mehr aus." ^) „Einem förm¬ lichen Angriff hätten die Forts nur noch geringen Widerstand entgegensetzen können. Die Stadtenceinte blieb zwar bis zum Ende thätig, im ganzen näherte sich jedoch die artilleristische Verteidigung der Erschöpfung." Der Mont Avron war sogar in einem Tage niedergekämpft worden. Also hatten die „Schießer," die sich ja nur auf die frühere Ansicht des Generalstabs gegen die spätere stützten, doch schließlich Recht behalten. Nun hat Paris allerdings nicht wegen der Beschießung kapituliert, sondern weil es ausgehungert war; aber wäre dieses Ende nicht vielleicht früher herbeigeführt worden, wenn mit der Beschießung vier bis sechs Wochen früher begonnen worden wäre? ') Beschießung von Paris 36 f. -) Geschichte des deutsch-französischen Kriegs SS6f. 368 f. Generalstabswerk II, 2, 1173 ff. Auch auf die frühern Gegner der Beschießung machten die Erfolge großen Eindruck, Wil- inowski 80. Vismarckbriefe 46S (vom 4. Januar 1L71),

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/306>, abgerufen am 15.01.2025.