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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Das deutsche Rönigsdrama

als die eigentliche dramatische Handlung hervortritt und ihre Seele ist, ist
doch wieder das rein individuelle Interesse und Geschick, der formelle Ehrgeiz,
die Familien- und dynastischen Zwecke. Selbst bei dem Meisterwerk "Tell,"
mit dem Schiller dein Begriff des historischen Dramas am nächsten gekommen
ist, macht sich dies noch insofern geltend, als die eigentliche rettende That nicht
ans dem ringenden nationalen Freiheitspathos der Nütlimänner, sondern aus
der gerechten Gegenwehr des in seiner individuellen Gefühlswelt, in seineu
teuersten Familieninteressen angegriffnen und sich in diesen verteidigenden Helden
hervorgeht.

Das echte, tiefere Verständnis für Geschichte gewinnt ein Volk, gewinnen
auch dessen führende Geister erst dadurch, daß es anfängt, selbst Geschichte zu
machen. Für uns, die wir die Schlachten dreier nationalen Kriege und die
Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. und Fürst Vismarck hinter
uns haben, ist es ein Leichtes zu erkenne", worin Lassalle irrte, wenn er der
Meinung war, die moderne dramatische Dichtung würde Schillers große
historischen Tragödien "Wallenstein" und "Tell" noch übertrumpfen, wenn
sie ihre Aufgabe wesentlich darein setzte, die "großen historischen Prozesse der
Zeiten und Völker, zumal des eignen, zum eigentlichen Subjekte der Tragödie,
zur dramatisch gestalteten Seele derselben zu machen." Lassalle verkannte die
Bedeutung der Persönlichkeit, und zwar gleichermaßen in der Geschichte wie
im Drama.

Welche Art von Wesen sind denn eigentlich die "historische": Ideen," aus
denen die deutsche Philosophie eine Art von Untergöttern gemacht hat, die im
Namen des allbeherrschender Logos, der Weltvcrnunft, die einzelnen Phasen
im Evvlutionsprozeß der Menschheit regieren? Bei Lichte betrachtet sind sie
nichts andres als der in eine abstrakte Formel gekleidete ideologische Reflex
der großen Interessen, durch die das Vorwärtsstreben der verschiednen Ab¬
teilungen und Schichten der Menschheit im tiefern Grnnde bestimmt wird.
Die bedeutsamem Willensvorgänge eines sich um ein derartiges Interessen-
zentrum bildenden Kreises spiegeln sich wieder in der Vorstellung der dabei
unbeteiligten Gruppen von Individuen, sie finden in deren Bewußtsein ihren
ideologischen Ausdruck. Zu voller Klarheit und zum lichten, erkenntnisfreudigen
Bewußtsein ihrer selbst, ihrer Ziele und ihrer Macht ist aber eine historische
Idee bis jetzt immer erst denn gelaugt, wenn sie sich verkörperte in einer
großen Persönlichkeit, im Genius, der aber dann seinerseits auch wieder der
Idee das Gepräge seiner eignen machtvolle" Natur aufdrückte. Um die Ge¬
schichte einer Zeit, eines Volkes zu verstehen und darzustellen, müßten wir uns
also bemühen, die großen Männer dieser Zeit, dieses Volkes in ihrem innersten
Wesen, in den Tiefen ihres Denkens "ut Strebens zu begreifen und das warm
und lebendig Erfaßte in einer anschaulichen, von der geistigen Ergriffenheit
beseelten Sprache zur Mitteilung zu bringen.


Das deutsche Rönigsdrama

als die eigentliche dramatische Handlung hervortritt und ihre Seele ist, ist
doch wieder das rein individuelle Interesse und Geschick, der formelle Ehrgeiz,
die Familien- und dynastischen Zwecke. Selbst bei dem Meisterwerk „Tell,"
mit dem Schiller dein Begriff des historischen Dramas am nächsten gekommen
ist, macht sich dies noch insofern geltend, als die eigentliche rettende That nicht
ans dem ringenden nationalen Freiheitspathos der Nütlimänner, sondern aus
der gerechten Gegenwehr des in seiner individuellen Gefühlswelt, in seineu
teuersten Familieninteressen angegriffnen und sich in diesen verteidigenden Helden
hervorgeht.

Das echte, tiefere Verständnis für Geschichte gewinnt ein Volk, gewinnen
auch dessen führende Geister erst dadurch, daß es anfängt, selbst Geschichte zu
machen. Für uns, die wir die Schlachten dreier nationalen Kriege und die
Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. und Fürst Vismarck hinter
uns haben, ist es ein Leichtes zu erkenne», worin Lassalle irrte, wenn er der
Meinung war, die moderne dramatische Dichtung würde Schillers große
historischen Tragödien „Wallenstein" und „Tell" noch übertrumpfen, wenn
sie ihre Aufgabe wesentlich darein setzte, die „großen historischen Prozesse der
Zeiten und Völker, zumal des eignen, zum eigentlichen Subjekte der Tragödie,
zur dramatisch gestalteten Seele derselben zu machen." Lassalle verkannte die
Bedeutung der Persönlichkeit, und zwar gleichermaßen in der Geschichte wie
im Drama.

Welche Art von Wesen sind denn eigentlich die „historische»: Ideen," aus
denen die deutsche Philosophie eine Art von Untergöttern gemacht hat, die im
Namen des allbeherrschender Logos, der Weltvcrnunft, die einzelnen Phasen
im Evvlutionsprozeß der Menschheit regieren? Bei Lichte betrachtet sind sie
nichts andres als der in eine abstrakte Formel gekleidete ideologische Reflex
der großen Interessen, durch die das Vorwärtsstreben der verschiednen Ab¬
teilungen und Schichten der Menschheit im tiefern Grnnde bestimmt wird.
Die bedeutsamem Willensvorgänge eines sich um ein derartiges Interessen-
zentrum bildenden Kreises spiegeln sich wieder in der Vorstellung der dabei
unbeteiligten Gruppen von Individuen, sie finden in deren Bewußtsein ihren
ideologischen Ausdruck. Zu voller Klarheit und zum lichten, erkenntnisfreudigen
Bewußtsein ihrer selbst, ihrer Ziele und ihrer Macht ist aber eine historische
Idee bis jetzt immer erst denn gelaugt, wenn sie sich verkörperte in einer
großen Persönlichkeit, im Genius, der aber dann seinerseits auch wieder der
Idee das Gepräge seiner eignen machtvolle» Natur aufdrückte. Um die Ge¬
schichte einer Zeit, eines Volkes zu verstehen und darzustellen, müßten wir uns
also bemühen, die großen Männer dieser Zeit, dieses Volkes in ihrem innersten
Wesen, in den Tiefen ihres Denkens »ut Strebens zu begreifen und das warm
und lebendig Erfaßte in einer anschaulichen, von der geistigen Ergriffenheit
beseelten Sprache zur Mitteilung zu bringen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/275>, abgerufen am 15.01.2025.