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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Das deutsche Königsdrama

die seit Jahrtausenden das Menschenherz beunruhigen und quälen, ohne weiteres
lösen, sich alle Mängel und Schäden, die unserm staatlichen und gesellschaft¬
lichen Leben anhaften mochten, leichter Hand beseitigen ließen.

Gegen derartige Auffassungen, die so ziemlich das Gegenteil von echter
Wissenschaftlichkeit sind, wurde Widerspruch erhoben von denkenden Männern,
die zwar nicht minder eifrig den Fortschrittsideen der Zeit huldigten, aber zu¬
gleich durchdrungen waren von der Einsicht, daß die großen Fragen des
politischen und sozialen Lebens aus dem Geist der Geschichte heraus ihre
Lösung erhalten müßten. In erster Linie ist hier zu nennen Ferdinand Lassalle.
Schon zu einer Zeit, wo noch an keine Arbeitcragitation gedacht wurde, stand
der Gedanke klar vor seiner Seele, daß in dem großen Gang der nationalen
Entwicklung der Augenblick eingetreten sei, wo die Deutschen mit Bewußtsein
den Staat schaffen müßten, an dessen Errichtung sie bis dahin weit überwiegend
nur als unbewußtes Werkzeug der großen historischen Entwicklungsideen mit¬
gearbeitet hatten. Sollte nun die deutsche Nation ihre feste Begründung
erhalten im deutschen Gesamtstaat, so mußte demgemäß auch die Gesamtheit
des deutschen Volkes, ohne Ausschließung irgend einer Schicht oder Klasse, zur
politischen Mitarbeit berufen werden.

Ein besonders wirksames Mittel, um im gesamten deutschen Volke das
Bewußtsein seines historischen Daseins und der ihm dadurch gestellten Aufgaben
zu wecken, schien das Theater zu sein. "Ich möchte -- schreibt Lassalle in der
Vorrede zu seiner Tragödie "Franz von Sickingen" -- den gewaltigen historischen
Prozeß, auf dessen Resultaten unsre ganze Wirklichkeit lebt, der aber nur noch
den Gelehrten bekannt, vom Volk dagegen bis auf einige Stichworte vergessen
ist, zum innern bewußten Gemeingut des Volkes machen. Ich möchte, wenn
möglich, diesen historischen Prozeß noch einmal in bewußter Erkenntnis und
leidenschaftlicher Ergreifung durch die Adern alles Volkes jagen. Die Macht,
einen solchen Zweck zu erreichen, ist nur der Poesie gegeben."

Lassalle hoffte aber nicht nur, durch poetische Verdichtung und Verkörperung
der geschichtlichen Ideen, aus denen das moderne Deutschland erwachsen ist,
der politischen Selbsterkenntnis der Nation einen machtvoll fördernden Anstoß
zu geben, er glaubte auch durch die ihm vorschwebende Idee einer erweiterten
Aufgabe des historischen Schauspiels die dramatische Dichtung selbst auf eine
höhere Stufe zu hebe" und ihr einen umfassender", der Bedeutung eines ver¬
tieften nationalen Gesamtlebens entsprechendem Inhalt zu geben. Das deutsche
Theater hat, ihm zufolge, über Shakespeare hinaus einen bedeutsamen Fort¬
schritt gemacht, indem Goethe und Schiller, insbesondre Schiller, das historische
Drama im engern Sinne erst geschaffen haben. Aber, wie verschiedne Literar¬
historiker vor ihm, hebt auch Lassalle hervor, daß selbst bei Schiller die großen
Gegensätze des historischen Geistes nur erst als der Boden erscheinen, auf dem
sich der tragische Konflikt bewegt. Was auf diesem historischen Untergrunde


Das deutsche Königsdrama

die seit Jahrtausenden das Menschenherz beunruhigen und quälen, ohne weiteres
lösen, sich alle Mängel und Schäden, die unserm staatlichen und gesellschaft¬
lichen Leben anhaften mochten, leichter Hand beseitigen ließen.

Gegen derartige Auffassungen, die so ziemlich das Gegenteil von echter
Wissenschaftlichkeit sind, wurde Widerspruch erhoben von denkenden Männern,
die zwar nicht minder eifrig den Fortschrittsideen der Zeit huldigten, aber zu¬
gleich durchdrungen waren von der Einsicht, daß die großen Fragen des
politischen und sozialen Lebens aus dem Geist der Geschichte heraus ihre
Lösung erhalten müßten. In erster Linie ist hier zu nennen Ferdinand Lassalle.
Schon zu einer Zeit, wo noch an keine Arbeitcragitation gedacht wurde, stand
der Gedanke klar vor seiner Seele, daß in dem großen Gang der nationalen
Entwicklung der Augenblick eingetreten sei, wo die Deutschen mit Bewußtsein
den Staat schaffen müßten, an dessen Errichtung sie bis dahin weit überwiegend
nur als unbewußtes Werkzeug der großen historischen Entwicklungsideen mit¬
gearbeitet hatten. Sollte nun die deutsche Nation ihre feste Begründung
erhalten im deutschen Gesamtstaat, so mußte demgemäß auch die Gesamtheit
des deutschen Volkes, ohne Ausschließung irgend einer Schicht oder Klasse, zur
politischen Mitarbeit berufen werden.

Ein besonders wirksames Mittel, um im gesamten deutschen Volke das
Bewußtsein seines historischen Daseins und der ihm dadurch gestellten Aufgaben
zu wecken, schien das Theater zu sein. „Ich möchte — schreibt Lassalle in der
Vorrede zu seiner Tragödie »Franz von Sickingen« — den gewaltigen historischen
Prozeß, auf dessen Resultaten unsre ganze Wirklichkeit lebt, der aber nur noch
den Gelehrten bekannt, vom Volk dagegen bis auf einige Stichworte vergessen
ist, zum innern bewußten Gemeingut des Volkes machen. Ich möchte, wenn
möglich, diesen historischen Prozeß noch einmal in bewußter Erkenntnis und
leidenschaftlicher Ergreifung durch die Adern alles Volkes jagen. Die Macht,
einen solchen Zweck zu erreichen, ist nur der Poesie gegeben."

Lassalle hoffte aber nicht nur, durch poetische Verdichtung und Verkörperung
der geschichtlichen Ideen, aus denen das moderne Deutschland erwachsen ist,
der politischen Selbsterkenntnis der Nation einen machtvoll fördernden Anstoß
zu geben, er glaubte auch durch die ihm vorschwebende Idee einer erweiterten
Aufgabe des historischen Schauspiels die dramatische Dichtung selbst auf eine
höhere Stufe zu hebe» und ihr einen umfassender», der Bedeutung eines ver¬
tieften nationalen Gesamtlebens entsprechendem Inhalt zu geben. Das deutsche
Theater hat, ihm zufolge, über Shakespeare hinaus einen bedeutsamen Fort¬
schritt gemacht, indem Goethe und Schiller, insbesondre Schiller, das historische
Drama im engern Sinne erst geschaffen haben. Aber, wie verschiedne Literar¬
historiker vor ihm, hebt auch Lassalle hervor, daß selbst bei Schiller die großen
Gegensätze des historischen Geistes nur erst als der Boden erscheinen, auf dem
sich der tragische Konflikt bewegt. Was auf diesem historischen Untergrunde


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[0274] Das deutsche Königsdrama die seit Jahrtausenden das Menschenherz beunruhigen und quälen, ohne weiteres lösen, sich alle Mängel und Schäden, die unserm staatlichen und gesellschaft¬ lichen Leben anhaften mochten, leichter Hand beseitigen ließen. Gegen derartige Auffassungen, die so ziemlich das Gegenteil von echter Wissenschaftlichkeit sind, wurde Widerspruch erhoben von denkenden Männern, die zwar nicht minder eifrig den Fortschrittsideen der Zeit huldigten, aber zu¬ gleich durchdrungen waren von der Einsicht, daß die großen Fragen des politischen und sozialen Lebens aus dem Geist der Geschichte heraus ihre Lösung erhalten müßten. In erster Linie ist hier zu nennen Ferdinand Lassalle. Schon zu einer Zeit, wo noch an keine Arbeitcragitation gedacht wurde, stand der Gedanke klar vor seiner Seele, daß in dem großen Gang der nationalen Entwicklung der Augenblick eingetreten sei, wo die Deutschen mit Bewußtsein den Staat schaffen müßten, an dessen Errichtung sie bis dahin weit überwiegend nur als unbewußtes Werkzeug der großen historischen Entwicklungsideen mit¬ gearbeitet hatten. Sollte nun die deutsche Nation ihre feste Begründung erhalten im deutschen Gesamtstaat, so mußte demgemäß auch die Gesamtheit des deutschen Volkes, ohne Ausschließung irgend einer Schicht oder Klasse, zur politischen Mitarbeit berufen werden. Ein besonders wirksames Mittel, um im gesamten deutschen Volke das Bewußtsein seines historischen Daseins und der ihm dadurch gestellten Aufgaben zu wecken, schien das Theater zu sein. „Ich möchte — schreibt Lassalle in der Vorrede zu seiner Tragödie »Franz von Sickingen« — den gewaltigen historischen Prozeß, auf dessen Resultaten unsre ganze Wirklichkeit lebt, der aber nur noch den Gelehrten bekannt, vom Volk dagegen bis auf einige Stichworte vergessen ist, zum innern bewußten Gemeingut des Volkes machen. Ich möchte, wenn möglich, diesen historischen Prozeß noch einmal in bewußter Erkenntnis und leidenschaftlicher Ergreifung durch die Adern alles Volkes jagen. Die Macht, einen solchen Zweck zu erreichen, ist nur der Poesie gegeben." Lassalle hoffte aber nicht nur, durch poetische Verdichtung und Verkörperung der geschichtlichen Ideen, aus denen das moderne Deutschland erwachsen ist, der politischen Selbsterkenntnis der Nation einen machtvoll fördernden Anstoß zu geben, er glaubte auch durch die ihm vorschwebende Idee einer erweiterten Aufgabe des historischen Schauspiels die dramatische Dichtung selbst auf eine höhere Stufe zu hebe» und ihr einen umfassender», der Bedeutung eines ver¬ tieften nationalen Gesamtlebens entsprechendem Inhalt zu geben. Das deutsche Theater hat, ihm zufolge, über Shakespeare hinaus einen bedeutsamen Fort¬ schritt gemacht, indem Goethe und Schiller, insbesondre Schiller, das historische Drama im engern Sinne erst geschaffen haben. Aber, wie verschiedne Literar¬ historiker vor ihm, hebt auch Lassalle hervor, daß selbst bei Schiller die großen Gegensätze des historischen Geistes nur erst als der Boden erscheinen, auf dem sich der tragische Konflikt bewegt. Was auf diesem historischen Untergrunde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/274>, abgerufen am 15.01.2025.