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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Durchdringung, aber einen Rückschritt bedeuten. Es kaun eben keine Zeit aus
ihrer Haut heraus, und nur auf mathematischem Gebiete ist es dem Menschen
vergönnt, absolute Wahrheiten zu finden.

Diesem etwas schwerflüssigen, aber unzweifelhaft gedankenvollen, wenngleich
mannigfach anfechtbaren Kapitel folgen drei weitere einleitende Abschnitte: die
Grundbegriffe einer Entwicklungsgeschichte der Menschheit von Joseph Kohler,
die Menschheit als Lebenserscheinung der Erde von Friedrich Ratzel, die Vor¬
geschichte der Menschheit von Johannes Ranke, alle drei treffliche, übersichtliche
Zusammenfassungen eines ungeheuern Materials aus der Feder hervorragender
Fachmänner. Die geschichtliche Darstellung beginnt mit dem Kapitel Amerika
von Konrad Häbler und führt dann die geschichtliche Bedeutung des Stillen
Ozeans vor (von dem verstorbnen Grafen Eduard Wilczek und Karl Weule);
dann sollen folgen: Ostasien und die Inselwelt des Großen Ozeans (II. Band),
Afrika und Westasien (III. Band), das Mittelmeerbecken, Mittel- und Westeuropa
(IV. bis VII. Band). Man sieht: das ethnographische Programm ist streng
durchgeführt; es tritt gleich zu Anfang an darin charakteristisch hervor, daß
nach einem Worte Natzels, Amerika sei der Ostraud der Alten Welt, eben
Amerika, die bisher sogenannte Neue Welt an die Spitze der gesamten Welt¬
geschichte gestellt wird. Dem gegenüber kann die Historie nur trocken sagen:
Gewiß kann die historische Darstellung immer nur auf einem Schauplatze chrono¬
logisch verfahren, muß also das zeitliche Nacheinander durch ein räumliches
Nebeneinander ergänzen, aber das Wesen der Geschichte ist doch, daß sie sich
in der Zeit bewegt; daher kann sie der Hauptsache nach nur nach zeitlichen,
also chronologischen, nicht nach räumlichen Kategorien, also nicht nach geo¬
graphisch-ethnographischen Einteilungsgrunde geordnet und geschrieben werden.
Wer das thut oder zu thun versucht, der setzt sich mit dem Wesen dieses
Wissensgebiets genau in denselben Widerspruch, als wenn jemand eine Geo¬
graphie nach historischen Richtlinien schreiben, also etwa von dem Weltbilde
Homers und der Chinesen ausgehn und nun die Entwicklung dieses Weltbilds
bis auf die Gegenwart verfolgen wollte; das würde eine Geschichte der Erd¬
kunde werden, wie sie Oskar Peschel geschrieben hat, aber nimmermehr eine
Erdkunde. Eine ethnographisch-geographische Anordnung des historischen Stoffs
ist nur möglich, ja aus praktischen Gründen geradezu geboten in Zeiten, wo
die einzelnen Völkerkreise noch Verkehrslos, also isoliert neben einander standen,
und wo sogar die parallele Chronologie unsicher ist, also im größten Teile der
vorchristlichen Zeit. Sobald die Verbindung zwischen den großen Völkerkreisen
hergestellt und rege wird, also etwa von der Zeit des persischen Reichs und
vor allem der Alexanders des Großen an, die zuerst den mittelmeerlündischen
Völkerkreis mit dein iranischen, ja mit dem indischen in Beziehung setzte, muß
die chronologische Einteilung in große Perioden eintreten, innerhalb deren nun
wieder die einzelnen Völkergruppen für sich behandelt werden mögen, bis die


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Durchdringung, aber einen Rückschritt bedeuten. Es kaun eben keine Zeit aus
ihrer Haut heraus, und nur auf mathematischem Gebiete ist es dem Menschen
vergönnt, absolute Wahrheiten zu finden.

Diesem etwas schwerflüssigen, aber unzweifelhaft gedankenvollen, wenngleich
mannigfach anfechtbaren Kapitel folgen drei weitere einleitende Abschnitte: die
Grundbegriffe einer Entwicklungsgeschichte der Menschheit von Joseph Kohler,
die Menschheit als Lebenserscheinung der Erde von Friedrich Ratzel, die Vor¬
geschichte der Menschheit von Johannes Ranke, alle drei treffliche, übersichtliche
Zusammenfassungen eines ungeheuern Materials aus der Feder hervorragender
Fachmänner. Die geschichtliche Darstellung beginnt mit dem Kapitel Amerika
von Konrad Häbler und führt dann die geschichtliche Bedeutung des Stillen
Ozeans vor (von dem verstorbnen Grafen Eduard Wilczek und Karl Weule);
dann sollen folgen: Ostasien und die Inselwelt des Großen Ozeans (II. Band),
Afrika und Westasien (III. Band), das Mittelmeerbecken, Mittel- und Westeuropa
(IV. bis VII. Band). Man sieht: das ethnographische Programm ist streng
durchgeführt; es tritt gleich zu Anfang an darin charakteristisch hervor, daß
nach einem Worte Natzels, Amerika sei der Ostraud der Alten Welt, eben
Amerika, die bisher sogenannte Neue Welt an die Spitze der gesamten Welt¬
geschichte gestellt wird. Dem gegenüber kann die Historie nur trocken sagen:
Gewiß kann die historische Darstellung immer nur auf einem Schauplatze chrono¬
logisch verfahren, muß also das zeitliche Nacheinander durch ein räumliches
Nebeneinander ergänzen, aber das Wesen der Geschichte ist doch, daß sie sich
in der Zeit bewegt; daher kann sie der Hauptsache nach nur nach zeitlichen,
also chronologischen, nicht nach räumlichen Kategorien, also nicht nach geo¬
graphisch-ethnographischen Einteilungsgrunde geordnet und geschrieben werden.
Wer das thut oder zu thun versucht, der setzt sich mit dem Wesen dieses
Wissensgebiets genau in denselben Widerspruch, als wenn jemand eine Geo¬
graphie nach historischen Richtlinien schreiben, also etwa von dem Weltbilde
Homers und der Chinesen ausgehn und nun die Entwicklung dieses Weltbilds
bis auf die Gegenwart verfolgen wollte; das würde eine Geschichte der Erd¬
kunde werden, wie sie Oskar Peschel geschrieben hat, aber nimmermehr eine
Erdkunde. Eine ethnographisch-geographische Anordnung des historischen Stoffs
ist nur möglich, ja aus praktischen Gründen geradezu geboten in Zeiten, wo
die einzelnen Völkerkreise noch Verkehrslos, also isoliert neben einander standen,
und wo sogar die parallele Chronologie unsicher ist, also im größten Teile der
vorchristlichen Zeit. Sobald die Verbindung zwischen den großen Völkerkreisen
hergestellt und rege wird, also etwa von der Zeit des persischen Reichs und
vor allem der Alexanders des Großen an, die zuerst den mittelmeerlündischen
Völkerkreis mit dein iranischen, ja mit dem indischen in Beziehung setzte, muß
die chronologische Einteilung in große Perioden eintreten, innerhalb deren nun
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/261>, abgerufen am 15.01.2025.