Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Line Weltgeschichte auf ethnographischer Grundlage

selbstverständliche Forderung --, und sie soll endlich von jeder Subjektivität, ja
selbst von jeder subjektiven Weltanschauung absehen. Ihr einziges Ziel ist die
Nachweisung des Kausalnexus; sie soll zeigen, wie die Dinge geworden sind,
nicht wozu. Vollständig wird sie auch dazu nicht imstande sein, denn sie ver¬
fügt über keine lückenlose Erkenntnis, und nur ein Teil der Dinge läßt sich
mit der Vernunft begreifen, ein andrer liegt darüber hinaus; es kann nur die
Aufgabe sein, diesen zweiten Teil möglichst einzuengen. Vollends die Persön¬
lichkeit bleibt ein nicht völlig auflösbares X; die Historie kann hier nur die
Grenze ziehn, innerhalb deren die persönliche Freiheit wirksam werden kann,
indem sie die Zustände, die "Umwelt," die jeden Menschen bestimmen, dar¬
legt- Von diesem jede wie immer geartete Systematisierung ablehnenden
Standpunkt aus verwirft Helmolt alle bisherigen Einteilungsgrunde, die
Nassen, die Kulturformen, sogar die "svzialpsychologischen" Kulturzeitalter
Lamprechts, und indem er von der entscheidenden Bedeutung des Bodens für
die menschheitliche Entwicklung ausgeht, will er die Weltgeschichte aus deu
großen Völkerkreisen, also auf rein geographisch-ethnographischer Grundlage
aufbauen -- ein neuer, kühner Versuch; ob ein durchführbarer, das muß sich
erst zeigen.

Schon gegen die Leitsätze dieser Einleitung läßt sich, so sehr viele davon
volle Zustimmung verdienen, manches einwenden. Mögen alle Werturteile nur
relative Berechtigung haben, so ist es doch unmöglich, ganz darauf zu verzichten.
Denn ohne Werturteil läßt sich überhaupt Wichtiges von weniger Wichtigem
nicht unterscheiden, der Stoff wird also zum Chaos. Mag die Schätzung der
Weißen Rasse einseitig sein, leugnen läßt sich doch nimmermehr, daß sie bisher,
völlig objektiv betrachtet, im ganzen größere Leistungen vollbracht hat als die
Neger oder die Nothäute, ja selbst als die asiatischen Kulturvölker, daß ihre
Geschichte also der jeuer Nassen an Wichtigkeit voransteht. Mögen solche Wert¬
urteile auch keine absolute Geltung haben, so hat doch jede Zeit das Recht,
ja die Pflicht, von ihren Erfahrungen aus ein Weltbild zu gestalten. Eben
deshalb kann sie auch auf gewisse geschichtsphilosophische Grundlinien nicht
verzichten, denn ohne solche sehlt jeder innere Zusammenhang der Dinge; nur
soll sie nicht die Thatsachen in ein fertiges System hineinpressen und nicht
der menschlichen Freiheit Gewalt anthun wollen. Historische "Gesetze" im
Sinne naturwissenschaftlicher Gesetze kann es gewiß nicht geben; aber die An¬
nahme, daß sich verschiedne Völker unter gleichen oder vielmehr unter ähnlichen
Voraussetzungen in ähnlicher Weise mit Wahrscheinlichkeit entwickeln, ist in der
Einheit des menschlichen Geistes begründet. Helmolt will, indem er der Welt-
geschichtschreibuug einen so vielseitigen Verzicht zumutet, Wohl zu viel erreichen:
er will etwas schaffen, was für alle Zeiten absolute Geltung hat. Das würde
schließlich auf eine empirische wohlgeordnete Stoffsammlung hinauslaufen, also
zwar in der einen Beziehung einen Fortschritt, in der andern, der geistigen


Line Weltgeschichte auf ethnographischer Grundlage

selbstverständliche Forderung —, und sie soll endlich von jeder Subjektivität, ja
selbst von jeder subjektiven Weltanschauung absehen. Ihr einziges Ziel ist die
Nachweisung des Kausalnexus; sie soll zeigen, wie die Dinge geworden sind,
nicht wozu. Vollständig wird sie auch dazu nicht imstande sein, denn sie ver¬
fügt über keine lückenlose Erkenntnis, und nur ein Teil der Dinge läßt sich
mit der Vernunft begreifen, ein andrer liegt darüber hinaus; es kann nur die
Aufgabe sein, diesen zweiten Teil möglichst einzuengen. Vollends die Persön¬
lichkeit bleibt ein nicht völlig auflösbares X; die Historie kann hier nur die
Grenze ziehn, innerhalb deren die persönliche Freiheit wirksam werden kann,
indem sie die Zustände, die „Umwelt," die jeden Menschen bestimmen, dar¬
legt- Von diesem jede wie immer geartete Systematisierung ablehnenden
Standpunkt aus verwirft Helmolt alle bisherigen Einteilungsgrunde, die
Nassen, die Kulturformen, sogar die „svzialpsychologischen" Kulturzeitalter
Lamprechts, und indem er von der entscheidenden Bedeutung des Bodens für
die menschheitliche Entwicklung ausgeht, will er die Weltgeschichte aus deu
großen Völkerkreisen, also auf rein geographisch-ethnographischer Grundlage
aufbauen — ein neuer, kühner Versuch; ob ein durchführbarer, das muß sich
erst zeigen.

Schon gegen die Leitsätze dieser Einleitung läßt sich, so sehr viele davon
volle Zustimmung verdienen, manches einwenden. Mögen alle Werturteile nur
relative Berechtigung haben, so ist es doch unmöglich, ganz darauf zu verzichten.
Denn ohne Werturteil läßt sich überhaupt Wichtiges von weniger Wichtigem
nicht unterscheiden, der Stoff wird also zum Chaos. Mag die Schätzung der
Weißen Rasse einseitig sein, leugnen läßt sich doch nimmermehr, daß sie bisher,
völlig objektiv betrachtet, im ganzen größere Leistungen vollbracht hat als die
Neger oder die Nothäute, ja selbst als die asiatischen Kulturvölker, daß ihre
Geschichte also der jeuer Nassen an Wichtigkeit voransteht. Mögen solche Wert¬
urteile auch keine absolute Geltung haben, so hat doch jede Zeit das Recht,
ja die Pflicht, von ihren Erfahrungen aus ein Weltbild zu gestalten. Eben
deshalb kann sie auch auf gewisse geschichtsphilosophische Grundlinien nicht
verzichten, denn ohne solche sehlt jeder innere Zusammenhang der Dinge; nur
soll sie nicht die Thatsachen in ein fertiges System hineinpressen und nicht
der menschlichen Freiheit Gewalt anthun wollen. Historische „Gesetze" im
Sinne naturwissenschaftlicher Gesetze kann es gewiß nicht geben; aber die An¬
nahme, daß sich verschiedne Völker unter gleichen oder vielmehr unter ähnlichen
Voraussetzungen in ähnlicher Weise mit Wahrscheinlichkeit entwickeln, ist in der
Einheit des menschlichen Geistes begründet. Helmolt will, indem er der Welt-
geschichtschreibuug einen so vielseitigen Verzicht zumutet, Wohl zu viel erreichen:
er will etwas schaffen, was für alle Zeiten absolute Geltung hat. Das würde
schließlich auf eine empirische wohlgeordnete Stoffsammlung hinauslaufen, also
zwar in der einen Beziehung einen Fortschritt, in der andern, der geistigen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0260" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231430"/>
          <fw type="header" place="top"> Line Weltgeschichte auf ethnographischer Grundlage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_815" prev="#ID_814"> selbstverständliche Forderung &#x2014;, und sie soll endlich von jeder Subjektivität, ja<lb/>
selbst von jeder subjektiven Weltanschauung absehen. Ihr einziges Ziel ist die<lb/>
Nachweisung des Kausalnexus; sie soll zeigen, wie die Dinge geworden sind,<lb/>
nicht wozu. Vollständig wird sie auch dazu nicht imstande sein, denn sie ver¬<lb/>
fügt über keine lückenlose Erkenntnis, und nur ein Teil der Dinge läßt sich<lb/>
mit der Vernunft begreifen, ein andrer liegt darüber hinaus; es kann nur die<lb/>
Aufgabe sein, diesen zweiten Teil möglichst einzuengen. Vollends die Persön¬<lb/>
lichkeit bleibt ein nicht völlig auflösbares X; die Historie kann hier nur die<lb/>
Grenze ziehn, innerhalb deren die persönliche Freiheit wirksam werden kann,<lb/>
indem sie die Zustände, die &#x201E;Umwelt," die jeden Menschen bestimmen, dar¬<lb/>
legt- Von diesem jede wie immer geartete Systematisierung ablehnenden<lb/>
Standpunkt aus verwirft Helmolt alle bisherigen Einteilungsgrunde, die<lb/>
Nassen, die Kulturformen, sogar die &#x201E;svzialpsychologischen" Kulturzeitalter<lb/>
Lamprechts, und indem er von der entscheidenden Bedeutung des Bodens für<lb/>
die menschheitliche Entwicklung ausgeht, will er die Weltgeschichte aus deu<lb/>
großen Völkerkreisen, also auf rein geographisch-ethnographischer Grundlage<lb/>
aufbauen &#x2014; ein neuer, kühner Versuch; ob ein durchführbarer, das muß sich<lb/>
erst zeigen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_816" next="#ID_817"> Schon gegen die Leitsätze dieser Einleitung läßt sich, so sehr viele davon<lb/>
volle Zustimmung verdienen, manches einwenden. Mögen alle Werturteile nur<lb/>
relative Berechtigung haben, so ist es doch unmöglich, ganz darauf zu verzichten.<lb/>
Denn ohne Werturteil läßt sich überhaupt Wichtiges von weniger Wichtigem<lb/>
nicht unterscheiden, der Stoff wird also zum Chaos. Mag die Schätzung der<lb/>
Weißen Rasse einseitig sein, leugnen läßt sich doch nimmermehr, daß sie bisher,<lb/>
völlig objektiv betrachtet, im ganzen größere Leistungen vollbracht hat als die<lb/>
Neger oder die Nothäute, ja selbst als die asiatischen Kulturvölker, daß ihre<lb/>
Geschichte also der jeuer Nassen an Wichtigkeit voransteht. Mögen solche Wert¬<lb/>
urteile auch keine absolute Geltung haben, so hat doch jede Zeit das Recht,<lb/>
ja die Pflicht, von ihren Erfahrungen aus ein Weltbild zu gestalten. Eben<lb/>
deshalb kann sie auch auf gewisse geschichtsphilosophische Grundlinien nicht<lb/>
verzichten, denn ohne solche sehlt jeder innere Zusammenhang der Dinge; nur<lb/>
soll sie nicht die Thatsachen in ein fertiges System hineinpressen und nicht<lb/>
der menschlichen Freiheit Gewalt anthun wollen. Historische &#x201E;Gesetze" im<lb/>
Sinne naturwissenschaftlicher Gesetze kann es gewiß nicht geben; aber die An¬<lb/>
nahme, daß sich verschiedne Völker unter gleichen oder vielmehr unter ähnlichen<lb/>
Voraussetzungen in ähnlicher Weise mit Wahrscheinlichkeit entwickeln, ist in der<lb/>
Einheit des menschlichen Geistes begründet. Helmolt will, indem er der Welt-<lb/>
geschichtschreibuug einen so vielseitigen Verzicht zumutet, Wohl zu viel erreichen:<lb/>
er will etwas schaffen, was für alle Zeiten absolute Geltung hat. Das würde<lb/>
schließlich auf eine empirische wohlgeordnete Stoffsammlung hinauslaufen, also<lb/>
zwar in der einen Beziehung einen Fortschritt, in der andern, der geistigen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0260] Line Weltgeschichte auf ethnographischer Grundlage selbstverständliche Forderung —, und sie soll endlich von jeder Subjektivität, ja selbst von jeder subjektiven Weltanschauung absehen. Ihr einziges Ziel ist die Nachweisung des Kausalnexus; sie soll zeigen, wie die Dinge geworden sind, nicht wozu. Vollständig wird sie auch dazu nicht imstande sein, denn sie ver¬ fügt über keine lückenlose Erkenntnis, und nur ein Teil der Dinge läßt sich mit der Vernunft begreifen, ein andrer liegt darüber hinaus; es kann nur die Aufgabe sein, diesen zweiten Teil möglichst einzuengen. Vollends die Persön¬ lichkeit bleibt ein nicht völlig auflösbares X; die Historie kann hier nur die Grenze ziehn, innerhalb deren die persönliche Freiheit wirksam werden kann, indem sie die Zustände, die „Umwelt," die jeden Menschen bestimmen, dar¬ legt- Von diesem jede wie immer geartete Systematisierung ablehnenden Standpunkt aus verwirft Helmolt alle bisherigen Einteilungsgrunde, die Nassen, die Kulturformen, sogar die „svzialpsychologischen" Kulturzeitalter Lamprechts, und indem er von der entscheidenden Bedeutung des Bodens für die menschheitliche Entwicklung ausgeht, will er die Weltgeschichte aus deu großen Völkerkreisen, also auf rein geographisch-ethnographischer Grundlage aufbauen — ein neuer, kühner Versuch; ob ein durchführbarer, das muß sich erst zeigen. Schon gegen die Leitsätze dieser Einleitung läßt sich, so sehr viele davon volle Zustimmung verdienen, manches einwenden. Mögen alle Werturteile nur relative Berechtigung haben, so ist es doch unmöglich, ganz darauf zu verzichten. Denn ohne Werturteil läßt sich überhaupt Wichtiges von weniger Wichtigem nicht unterscheiden, der Stoff wird also zum Chaos. Mag die Schätzung der Weißen Rasse einseitig sein, leugnen läßt sich doch nimmermehr, daß sie bisher, völlig objektiv betrachtet, im ganzen größere Leistungen vollbracht hat als die Neger oder die Nothäute, ja selbst als die asiatischen Kulturvölker, daß ihre Geschichte also der jeuer Nassen an Wichtigkeit voransteht. Mögen solche Wert¬ urteile auch keine absolute Geltung haben, so hat doch jede Zeit das Recht, ja die Pflicht, von ihren Erfahrungen aus ein Weltbild zu gestalten. Eben deshalb kann sie auch auf gewisse geschichtsphilosophische Grundlinien nicht verzichten, denn ohne solche sehlt jeder innere Zusammenhang der Dinge; nur soll sie nicht die Thatsachen in ein fertiges System hineinpressen und nicht der menschlichen Freiheit Gewalt anthun wollen. Historische „Gesetze" im Sinne naturwissenschaftlicher Gesetze kann es gewiß nicht geben; aber die An¬ nahme, daß sich verschiedne Völker unter gleichen oder vielmehr unter ähnlichen Voraussetzungen in ähnlicher Weise mit Wahrscheinlichkeit entwickeln, ist in der Einheit des menschlichen Geistes begründet. Helmolt will, indem er der Welt- geschichtschreibuug einen so vielseitigen Verzicht zumutet, Wohl zu viel erreichen: er will etwas schaffen, was für alle Zeiten absolute Geltung hat. Das würde schließlich auf eine empirische wohlgeordnete Stoffsammlung hinauslaufen, also zwar in der einen Beziehung einen Fortschritt, in der andern, der geistigen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/260
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/260>, abgerufen am 15.01.2025.