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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Eine Weltgeschichte auf ethnographischer Grundlage

der großen Völker- und Kultnrkreise darstellen, sondern man erkennt die Pflicht
an, alle Völker der Erde historisch zu begreifen. Bei der dadurch gesteigerten
Schwierigkeit der an sich schon ungeheuern Aufgabe kann nun freilich das Ver¬
fahren in der Darstellung zweifelhaft sein, denn der riesig angewachsene Stoff
droht die überlieferten Formen zu sprengen. Da versucht nun ein neues, groß
angelegtes und vorzüglich ausgestattetes Unternehmen einen ganz neuen Ein-
teilungsgruud aufzustellen und durchzuführen.^) Dabei hat der Herausgeber,
Haus Helmvlt in Leipzig, von dem vorliegenden ersten Bande nur die Ein¬
leitung über den Begriff der Weltgeschichte geschrieben und sich auch künftig
Wohl uur einzelne Teile vorbehalten, die Hauptmasse einer Anzahl von teil¬
weise namhaften Fachmännern, im ganzen dreißig, von denen wir hier nur
Friedrich Nutzet, Johannes Ranke, Karl Prüll, Julius Jung, Konrad Häbler,
Graf Eduard Wilczek, Hans von Zwiedineck-Südenhorst nennen wollen, zuge¬
wiesen, eine Teilung der Arbeit, die natürlich manches bedenkliche hat, aber,
wenn der wissenschaftliche Charakter des Werkes gewahrt werden sollte, unver¬
meidlich war. Indem der Herausgeber damit auf die Einheit der Gesamt-
auffassung verzichtete, hat er vier grundlegende Kapitel vorausgeschickt. Im
ersten entwickelt er selbst, unter Ablehnung früherer Auffassungen, sein Pro¬
gramm. Die Aufgabe der Weltgeschichte ist es nach ihm, alle Völker der Erde
in allen ihren Lebensäußerungen zu umfassen und soweit, als es möglich ist,
zurückzuverfolgen. Sie darf sich also nicht auf die sogenannten Kulturvölker
beschränken, denn alle Werturteile über die Bedeutung eines Volks sind sub¬
jektiv oder beruhen auf einer unvollständigen Erfahrung. So der Satz von
der absoluten Überlegenheit der Weißen Rasse, der durch die hohen und sehr
alten Kulturleistungen der gelben Nasse in Ostasien und der hamitischen Ägypter
widerlegt wird; so die Behauptung, ein Volk gehe uuter, sobald es seine Aufgabe
erfüllt habe, denn seine Kultnrerrungenschaften gehn nicht uuter, sondern nur
auf andre Völker über, endlich die Meinung von der Vorbildlichkeit der Ent¬
wicklung mancher Völker, da doch jedes unter ganz verschiednen Bedingungen
aufwächst. Sodann muß die Geschichte jede Teleologie und jede geschichts-
Philosophische Shstematisterung ablehnen. Denn ein allgemein verbindliches
Shstem zur Erklärung des Weltganzen ist prinzipiell unmöglich, weil kein
Mensch die ganze Entwicklung zu übersehen vermag. Deshalb soll sie auch
keine sogenannten historischen Gesetze aufstellen, wie es die Naturwissenschaft
thut und thun kann, deun alle derartigen, von der Erfahrung abstrahierten
Sätze bedeuten thatsächlich nur Möglichkeiten, aber keine bindenden Notwendig¬
keiten, Sie soll sich ferner kein sittenrichterliches Amt anmaßen -- eine alte,



*) Weltgeschichte, Herausgegeben von Huus F, Hcllnolt, Erster Band, Mit 3 Karten,
4 Fnrbendrucktnfeln und U> schwarzen Beilagen, Leipzig und Wien, Bibliographisches Institut,
IM, X und 030 S, Lexikon-Oktav.
Eine Weltgeschichte auf ethnographischer Grundlage

der großen Völker- und Kultnrkreise darstellen, sondern man erkennt die Pflicht
an, alle Völker der Erde historisch zu begreifen. Bei der dadurch gesteigerten
Schwierigkeit der an sich schon ungeheuern Aufgabe kann nun freilich das Ver¬
fahren in der Darstellung zweifelhaft sein, denn der riesig angewachsene Stoff
droht die überlieferten Formen zu sprengen. Da versucht nun ein neues, groß
angelegtes und vorzüglich ausgestattetes Unternehmen einen ganz neuen Ein-
teilungsgruud aufzustellen und durchzuführen.^) Dabei hat der Herausgeber,
Haus Helmvlt in Leipzig, von dem vorliegenden ersten Bande nur die Ein¬
leitung über den Begriff der Weltgeschichte geschrieben und sich auch künftig
Wohl uur einzelne Teile vorbehalten, die Hauptmasse einer Anzahl von teil¬
weise namhaften Fachmännern, im ganzen dreißig, von denen wir hier nur
Friedrich Nutzet, Johannes Ranke, Karl Prüll, Julius Jung, Konrad Häbler,
Graf Eduard Wilczek, Hans von Zwiedineck-Südenhorst nennen wollen, zuge¬
wiesen, eine Teilung der Arbeit, die natürlich manches bedenkliche hat, aber,
wenn der wissenschaftliche Charakter des Werkes gewahrt werden sollte, unver¬
meidlich war. Indem der Herausgeber damit auf die Einheit der Gesamt-
auffassung verzichtete, hat er vier grundlegende Kapitel vorausgeschickt. Im
ersten entwickelt er selbst, unter Ablehnung früherer Auffassungen, sein Pro¬
gramm. Die Aufgabe der Weltgeschichte ist es nach ihm, alle Völker der Erde
in allen ihren Lebensäußerungen zu umfassen und soweit, als es möglich ist,
zurückzuverfolgen. Sie darf sich also nicht auf die sogenannten Kulturvölker
beschränken, denn alle Werturteile über die Bedeutung eines Volks sind sub¬
jektiv oder beruhen auf einer unvollständigen Erfahrung. So der Satz von
der absoluten Überlegenheit der Weißen Rasse, der durch die hohen und sehr
alten Kulturleistungen der gelben Nasse in Ostasien und der hamitischen Ägypter
widerlegt wird; so die Behauptung, ein Volk gehe uuter, sobald es seine Aufgabe
erfüllt habe, denn seine Kultnrerrungenschaften gehn nicht uuter, sondern nur
auf andre Völker über, endlich die Meinung von der Vorbildlichkeit der Ent¬
wicklung mancher Völker, da doch jedes unter ganz verschiednen Bedingungen
aufwächst. Sodann muß die Geschichte jede Teleologie und jede geschichts-
Philosophische Shstematisterung ablehnen. Denn ein allgemein verbindliches
Shstem zur Erklärung des Weltganzen ist prinzipiell unmöglich, weil kein
Mensch die ganze Entwicklung zu übersehen vermag. Deshalb soll sie auch
keine sogenannten historischen Gesetze aufstellen, wie es die Naturwissenschaft
thut und thun kann, deun alle derartigen, von der Erfahrung abstrahierten
Sätze bedeuten thatsächlich nur Möglichkeiten, aber keine bindenden Notwendig¬
keiten, Sie soll sich ferner kein sittenrichterliches Amt anmaßen -- eine alte,



*) Weltgeschichte, Herausgegeben von Huus F, Hcllnolt, Erster Band, Mit 3 Karten,
4 Fnrbendrucktnfeln und U> schwarzen Beilagen, Leipzig und Wien, Bibliographisches Institut,
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[0259] Eine Weltgeschichte auf ethnographischer Grundlage der großen Völker- und Kultnrkreise darstellen, sondern man erkennt die Pflicht an, alle Völker der Erde historisch zu begreifen. Bei der dadurch gesteigerten Schwierigkeit der an sich schon ungeheuern Aufgabe kann nun freilich das Ver¬ fahren in der Darstellung zweifelhaft sein, denn der riesig angewachsene Stoff droht die überlieferten Formen zu sprengen. Da versucht nun ein neues, groß angelegtes und vorzüglich ausgestattetes Unternehmen einen ganz neuen Ein- teilungsgruud aufzustellen und durchzuführen.^) Dabei hat der Herausgeber, Haus Helmvlt in Leipzig, von dem vorliegenden ersten Bande nur die Ein¬ leitung über den Begriff der Weltgeschichte geschrieben und sich auch künftig Wohl uur einzelne Teile vorbehalten, die Hauptmasse einer Anzahl von teil¬ weise namhaften Fachmännern, im ganzen dreißig, von denen wir hier nur Friedrich Nutzet, Johannes Ranke, Karl Prüll, Julius Jung, Konrad Häbler, Graf Eduard Wilczek, Hans von Zwiedineck-Südenhorst nennen wollen, zuge¬ wiesen, eine Teilung der Arbeit, die natürlich manches bedenkliche hat, aber, wenn der wissenschaftliche Charakter des Werkes gewahrt werden sollte, unver¬ meidlich war. Indem der Herausgeber damit auf die Einheit der Gesamt- auffassung verzichtete, hat er vier grundlegende Kapitel vorausgeschickt. Im ersten entwickelt er selbst, unter Ablehnung früherer Auffassungen, sein Pro¬ gramm. Die Aufgabe der Weltgeschichte ist es nach ihm, alle Völker der Erde in allen ihren Lebensäußerungen zu umfassen und soweit, als es möglich ist, zurückzuverfolgen. Sie darf sich also nicht auf die sogenannten Kulturvölker beschränken, denn alle Werturteile über die Bedeutung eines Volks sind sub¬ jektiv oder beruhen auf einer unvollständigen Erfahrung. So der Satz von der absoluten Überlegenheit der Weißen Rasse, der durch die hohen und sehr alten Kulturleistungen der gelben Nasse in Ostasien und der hamitischen Ägypter widerlegt wird; so die Behauptung, ein Volk gehe uuter, sobald es seine Aufgabe erfüllt habe, denn seine Kultnrerrungenschaften gehn nicht uuter, sondern nur auf andre Völker über, endlich die Meinung von der Vorbildlichkeit der Ent¬ wicklung mancher Völker, da doch jedes unter ganz verschiednen Bedingungen aufwächst. Sodann muß die Geschichte jede Teleologie und jede geschichts- Philosophische Shstematisterung ablehnen. Denn ein allgemein verbindliches Shstem zur Erklärung des Weltganzen ist prinzipiell unmöglich, weil kein Mensch die ganze Entwicklung zu übersehen vermag. Deshalb soll sie auch keine sogenannten historischen Gesetze aufstellen, wie es die Naturwissenschaft thut und thun kann, deun alle derartigen, von der Erfahrung abstrahierten Sätze bedeuten thatsächlich nur Möglichkeiten, aber keine bindenden Notwendig¬ keiten, Sie soll sich ferner kein sittenrichterliches Amt anmaßen -- eine alte, *) Weltgeschichte, Herausgegeben von Huus F, Hcllnolt, Erster Band, Mit 3 Karten, 4 Fnrbendrucktnfeln und U> schwarzen Beilagen, Leipzig und Wien, Bibliographisches Institut, IM, X und 030 S, Lexikon-Oktav.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/259>, abgerufen am 15.01.2025.