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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Brauchen wir fremdes Brotkorn?

drängen der schönen krummen Linie bei Wegen, Gräben und Waldsäumen
durch die abscheuliche gerade nicht ganz einstimmen können, so scheint uns doch
die moderne landwirtschaftliche Technik und Energie namentlich die nord- und
die ostdeutschen Ebenen schon hinreichend schmuck- und anmutlos gemacht zu
haben. Viel darf in der Richtung nicht mehr gesündigt werden, zumal wenn
man die Landflucht verhindern will. Eher sollte man auf das Gegenteil
bedacht sein.

Damit soll nicht gesagt sein, daß nicht in vielen Gegenden Deutschlands,
und zwar namentlich in solchen mit fast ausschließlich klein- und mittel¬
bäuerlichem Besitz, z. B. in dem dnrch die neuste Mode zum Musterkarte
gestempelten Bayern, gehörig für größere Intelligenz und Energie der Wirte
und für größere Intensität der Wirtschaft gesorgt werden müßte. Aber man
darf nur nie vergessen, daß der Staat, der heute in allem helfen soll, es mit
den Menschen zu thun hat, die den Boden bebauen, nicht mit dem Boden
selbst, und daß er, wenn er auf allgemeine Unkosten den Gewinn des guten
wie des schlechten Wirtes steigert, vielleicht ebensoviel beiträgt zur Erhaltung
der schlechten wie der guten Wirtschaft. Das wird heute viel zu häufig außer
acht gelassen in der Agrarpolitik. Man sieht nur den Boden, den Acker, das
Gut, aber man sieht nicht die Personen, auf die alles ankommt, und die die
Herren sind, bleiben wollen und bleiben sollen. Daß sich diese Herren die
Nichtachtung ganz gern gefallen lassen, weil sie dabei vorläufig ein gutes
Geschäft machen, macht eine unverständige Politik nicht verständig, auch Thorheit
nicht zur Weisheit.

Im Oktober vorigen Jahres waren in den "Nachrichten des deutschen
Landwirtschaftsrats" Mr. 9, 1898) Untersuchungen und Berechnungen über
den Verbrauch von Brodgetreide veröffentlicht worden, nach deren Ergebnis
auf den Kopf der Bevölkerung höchstens 171 Kilogramm gebraucht werden
sollen. Da nun in der Periode 1893/97 die durchschnittliche Bevölkerung auf
52279981 Köpfe zu berechnen sei, so wären -- sagt der Statistiker des Laud¬
wirtschaftsrats -- jährlich 8939863 Tonnen (zu 1000 Kilogramm) Brod¬
getreide für die Ernährung erforderlich gewesen. Die Ernte habe im Durch¬
schnitt jährlich 10006462 Tonnen betragen, für die Aussaat seien 1352451
Tonnen verbraucht worden, es sei also nur noch der Rest von 285852 Tonnen
vom Auslande einzuführen nötig gewesen. Wirklich eingeführt aber wären
jährlich 1753739 Tonnen, das sind 1467 937 Tonnen mehr, als mit Rücksicht
auf die Ernährung der inländischen Bevölkerung erforderlich gewesen wäre,
unter der Voraussetzung, daß das inländische Brodgetreide nach Abzug der
Saat auch wirklich als menschliches Nahrungsmittel verwandt worden ist.
Der Landwirtschaftsrat glaubte damit bewiesen zu haben, "daß die deutsche
Landwirtschaft noch imstande ist. dem deutschen Volke fast das gesamte zu
seiner Ernährung erforderliche Brodgetreide zu liefern, wenn das im Inlande
erzeugte Brodgetreide dazu verwandt wird und nach den Preisverhältnissen


Brauchen wir fremdes Brotkorn?

drängen der schönen krummen Linie bei Wegen, Gräben und Waldsäumen
durch die abscheuliche gerade nicht ganz einstimmen können, so scheint uns doch
die moderne landwirtschaftliche Technik und Energie namentlich die nord- und
die ostdeutschen Ebenen schon hinreichend schmuck- und anmutlos gemacht zu
haben. Viel darf in der Richtung nicht mehr gesündigt werden, zumal wenn
man die Landflucht verhindern will. Eher sollte man auf das Gegenteil
bedacht sein.

Damit soll nicht gesagt sein, daß nicht in vielen Gegenden Deutschlands,
und zwar namentlich in solchen mit fast ausschließlich klein- und mittel¬
bäuerlichem Besitz, z. B. in dem dnrch die neuste Mode zum Musterkarte
gestempelten Bayern, gehörig für größere Intelligenz und Energie der Wirte
und für größere Intensität der Wirtschaft gesorgt werden müßte. Aber man
darf nur nie vergessen, daß der Staat, der heute in allem helfen soll, es mit
den Menschen zu thun hat, die den Boden bebauen, nicht mit dem Boden
selbst, und daß er, wenn er auf allgemeine Unkosten den Gewinn des guten
wie des schlechten Wirtes steigert, vielleicht ebensoviel beiträgt zur Erhaltung
der schlechten wie der guten Wirtschaft. Das wird heute viel zu häufig außer
acht gelassen in der Agrarpolitik. Man sieht nur den Boden, den Acker, das
Gut, aber man sieht nicht die Personen, auf die alles ankommt, und die die
Herren sind, bleiben wollen und bleiben sollen. Daß sich diese Herren die
Nichtachtung ganz gern gefallen lassen, weil sie dabei vorläufig ein gutes
Geschäft machen, macht eine unverständige Politik nicht verständig, auch Thorheit
nicht zur Weisheit.

Im Oktober vorigen Jahres waren in den „Nachrichten des deutschen
Landwirtschaftsrats" Mr. 9, 1898) Untersuchungen und Berechnungen über
den Verbrauch von Brodgetreide veröffentlicht worden, nach deren Ergebnis
auf den Kopf der Bevölkerung höchstens 171 Kilogramm gebraucht werden
sollen. Da nun in der Periode 1893/97 die durchschnittliche Bevölkerung auf
52279981 Köpfe zu berechnen sei, so wären — sagt der Statistiker des Laud¬
wirtschaftsrats — jährlich 8939863 Tonnen (zu 1000 Kilogramm) Brod¬
getreide für die Ernährung erforderlich gewesen. Die Ernte habe im Durch¬
schnitt jährlich 10006462 Tonnen betragen, für die Aussaat seien 1352451
Tonnen verbraucht worden, es sei also nur noch der Rest von 285852 Tonnen
vom Auslande einzuführen nötig gewesen. Wirklich eingeführt aber wären
jährlich 1753739 Tonnen, das sind 1467 937 Tonnen mehr, als mit Rücksicht
auf die Ernährung der inländischen Bevölkerung erforderlich gewesen wäre,
unter der Voraussetzung, daß das inländische Brodgetreide nach Abzug der
Saat auch wirklich als menschliches Nahrungsmittel verwandt worden ist.
Der Landwirtschaftsrat glaubte damit bewiesen zu haben, „daß die deutsche
Landwirtschaft noch imstande ist. dem deutschen Volke fast das gesamte zu
seiner Ernährung erforderliche Brodgetreide zu liefern, wenn das im Inlande
erzeugte Brodgetreide dazu verwandt wird und nach den Preisverhältnissen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/22>, abgerufen am 15.01.2025.