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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

interessiert hier nicht. Soweit aber die neuen gesetzlichen Organisationen für
Landwirte und Handwerker dafür ins Treffen geführt werden, daß nun auch
sofort die Arbeiter ähnlich von Gesetzes wegen organisiert werden müßten, wenn
sie nicht mit Recht erbittert werden sollten, so ist das eine Forderung, die die
verbündeten Regierungen natürlich nicht ernst nehmen können. Die Erfah¬
rungen, die bei den bisherigen Organisationen gemacht worden sind, müssen
den Staat im Gegenteil dazu bringen, recht vorsichtig mit solchen korporativen
Neubauten vorzugehn. Als Kinderspiel sollten doch auch die Herren Pro¬
fessoren solche Fragen nicht länger behandeln.

Und endlich verlangt nun Schmoller noch -- nach bekanntem parlamen¬
tarischen Rezept --, ehe er über die Strafbestimmungen für den Mißbrauch
der Koalitions- und Streikfreiheit mit sich sprechen lassen will, daß die "That¬
sachen, um die es sich handelt, durch eine zuverlässige, absolut öffentliche
Enquete festgelegt" würden, "sodaß man unbedingtes Zutrauen von feiten aller
Klassen und Parteien auf den behaupteten Umfang der Mißbräuche, ihre Art,
ihre Folgen hegen könnte." Es ist schlechterdings nicht anzunehmen, daß er
bei seinen Erfahrungen nicht von der bis zur Absurdität gehenden Unmöglich¬
keit einer solchen Enquete überzeugt sein sollte. Wenn irgendwo, hat hier der
Staat sich seiner eignen Seh- und Hörorgane, d. h. seiner verantwortlichen,
pflichttreuen, über den Parteien stehenden Beamten zu bedienen, wenn er die
Wahrheit erfahren will. Wenn sie ihn belügen, so soll er sie zum Teufel
jagen, aber sich bei den Interessenten selbst ganze Bände von Lügen, Über¬
treibungen und Entstellungen einsammeln, um daraufhin seine Hände in Un¬
schuld zu waschen, das darf der Staat in dieser Sache nicht. Schmoller hat
für die weitere parlamentarische Behandlung der Sache -- ob wissentlich oder
unwissentlich, mag unerörtert bleiben -- mit diesem Enquetevorschlag eine
überaus verhängnisvolle Parole ausgegeben. Die zweite Lesung wird das
wohl deutlich erkennen lassen. Die Schuld -- oder wie die Entrüsteten sagen
werden: das Verdienst, verhindert zu haben, daß der Reichstag die gehässige
Demonstration gegen die verbündeten Regierungen und den Kaiser wieder gut
macht, daß der dnrch eine frivole Agitation über die Absichten der Regierungen
und des Kaisers in den "Massen" erweckte "falsche Schein" baldmöglichst
durch ehrliche, auf dem Boden der Wahrheit fußende Beratungen vernichtet
wird, diese Schuld oder dieses Verdienst wird ihm dann niemand mehr abzu¬
sprechen versuchen.

Hoffentlich werden die Grenzbotenleser dann wissen, ob auf Schuld oder
ob auf Verdienst zu erkennen ist.




Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

interessiert hier nicht. Soweit aber die neuen gesetzlichen Organisationen für
Landwirte und Handwerker dafür ins Treffen geführt werden, daß nun auch
sofort die Arbeiter ähnlich von Gesetzes wegen organisiert werden müßten, wenn
sie nicht mit Recht erbittert werden sollten, so ist das eine Forderung, die die
verbündeten Regierungen natürlich nicht ernst nehmen können. Die Erfah¬
rungen, die bei den bisherigen Organisationen gemacht worden sind, müssen
den Staat im Gegenteil dazu bringen, recht vorsichtig mit solchen korporativen
Neubauten vorzugehn. Als Kinderspiel sollten doch auch die Herren Pro¬
fessoren solche Fragen nicht länger behandeln.

Und endlich verlangt nun Schmoller noch — nach bekanntem parlamen¬
tarischen Rezept —, ehe er über die Strafbestimmungen für den Mißbrauch
der Koalitions- und Streikfreiheit mit sich sprechen lassen will, daß die „That¬
sachen, um die es sich handelt, durch eine zuverlässige, absolut öffentliche
Enquete festgelegt" würden, „sodaß man unbedingtes Zutrauen von feiten aller
Klassen und Parteien auf den behaupteten Umfang der Mißbräuche, ihre Art,
ihre Folgen hegen könnte." Es ist schlechterdings nicht anzunehmen, daß er
bei seinen Erfahrungen nicht von der bis zur Absurdität gehenden Unmöglich¬
keit einer solchen Enquete überzeugt sein sollte. Wenn irgendwo, hat hier der
Staat sich seiner eignen Seh- und Hörorgane, d. h. seiner verantwortlichen,
pflichttreuen, über den Parteien stehenden Beamten zu bedienen, wenn er die
Wahrheit erfahren will. Wenn sie ihn belügen, so soll er sie zum Teufel
jagen, aber sich bei den Interessenten selbst ganze Bände von Lügen, Über¬
treibungen und Entstellungen einsammeln, um daraufhin seine Hände in Un¬
schuld zu waschen, das darf der Staat in dieser Sache nicht. Schmoller hat
für die weitere parlamentarische Behandlung der Sache — ob wissentlich oder
unwissentlich, mag unerörtert bleiben — mit diesem Enquetevorschlag eine
überaus verhängnisvolle Parole ausgegeben. Die zweite Lesung wird das
wohl deutlich erkennen lassen. Die Schuld — oder wie die Entrüsteten sagen
werden: das Verdienst, verhindert zu haben, daß der Reichstag die gehässige
Demonstration gegen die verbündeten Regierungen und den Kaiser wieder gut
macht, daß der dnrch eine frivole Agitation über die Absichten der Regierungen
und des Kaisers in den „Massen" erweckte „falsche Schein" baldmöglichst
durch ehrliche, auf dem Boden der Wahrheit fußende Beratungen vernichtet
wird, diese Schuld oder dieses Verdienst wird ihm dann niemand mehr abzu¬
sprechen versuchen.

Hoffentlich werden die Grenzbotenleser dann wissen, ob auf Schuld oder
ob auf Verdienst zu erkennen ist.




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[0218] Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage interessiert hier nicht. Soweit aber die neuen gesetzlichen Organisationen für Landwirte und Handwerker dafür ins Treffen geführt werden, daß nun auch sofort die Arbeiter ähnlich von Gesetzes wegen organisiert werden müßten, wenn sie nicht mit Recht erbittert werden sollten, so ist das eine Forderung, die die verbündeten Regierungen natürlich nicht ernst nehmen können. Die Erfah¬ rungen, die bei den bisherigen Organisationen gemacht worden sind, müssen den Staat im Gegenteil dazu bringen, recht vorsichtig mit solchen korporativen Neubauten vorzugehn. Als Kinderspiel sollten doch auch die Herren Pro¬ fessoren solche Fragen nicht länger behandeln. Und endlich verlangt nun Schmoller noch — nach bekanntem parlamen¬ tarischen Rezept —, ehe er über die Strafbestimmungen für den Mißbrauch der Koalitions- und Streikfreiheit mit sich sprechen lassen will, daß die „That¬ sachen, um die es sich handelt, durch eine zuverlässige, absolut öffentliche Enquete festgelegt" würden, „sodaß man unbedingtes Zutrauen von feiten aller Klassen und Parteien auf den behaupteten Umfang der Mißbräuche, ihre Art, ihre Folgen hegen könnte." Es ist schlechterdings nicht anzunehmen, daß er bei seinen Erfahrungen nicht von der bis zur Absurdität gehenden Unmöglich¬ keit einer solchen Enquete überzeugt sein sollte. Wenn irgendwo, hat hier der Staat sich seiner eignen Seh- und Hörorgane, d. h. seiner verantwortlichen, pflichttreuen, über den Parteien stehenden Beamten zu bedienen, wenn er die Wahrheit erfahren will. Wenn sie ihn belügen, so soll er sie zum Teufel jagen, aber sich bei den Interessenten selbst ganze Bände von Lügen, Über¬ treibungen und Entstellungen einsammeln, um daraufhin seine Hände in Un¬ schuld zu waschen, das darf der Staat in dieser Sache nicht. Schmoller hat für die weitere parlamentarische Behandlung der Sache — ob wissentlich oder unwissentlich, mag unerörtert bleiben — mit diesem Enquetevorschlag eine überaus verhängnisvolle Parole ausgegeben. Die zweite Lesung wird das wohl deutlich erkennen lassen. Die Schuld — oder wie die Entrüsteten sagen werden: das Verdienst, verhindert zu haben, daß der Reichstag die gehässige Demonstration gegen die verbündeten Regierungen und den Kaiser wieder gut macht, daß der dnrch eine frivole Agitation über die Absichten der Regierungen und des Kaisers in den „Massen" erweckte „falsche Schein" baldmöglichst durch ehrliche, auf dem Boden der Wahrheit fußende Beratungen vernichtet wird, diese Schuld oder dieses Verdienst wird ihm dann niemand mehr abzu¬ sprechen versuchen. Hoffentlich werden die Grenzbotenleser dann wissen, ob auf Schuld oder ob auf Verdienst zu erkennen ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/218>, abgerufen am 15.01.2025.