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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

hatte. Der berufne Sozialhistoriograph der preußischen Krone, Professor
Schmoller, wird doch wohl pflichtschuldigst in seinen Akten zur Geschichte der
Gegenwart registrieren, daß die Verlepschische Fronde, und zwar im Verein mit
der sozialdemokratischen und demokratischen Parteileitung, Jahr und Tag alle
Hebel in Bewegung gesetzt hat, den "falschen Schein," der jetzt ausgespielt wird,
bei den "Massen und Millionen" zu erregen. Er wird dabei auch wahrheits¬
gemäß zu notieren haben, bei welchem Teil der Massen sie dabei Erfolg gehabt
haben- Die Wahrheit darüber ist schon dahin festgelegt worden, daß dieser
Erfolg, abgesehen von den den Führern blind folgenden, schon bestehenden
Kampf- und Agitationsorganisationen, minimal ist. Es ist eine ganz horrende,
einem Historiker niemals zu verzeihende Übertreibung, wenn Schmoller sagte,
wir hätten zwölf bis vierzehn Millionen Arbeiter, von denen die Sozialdemo¬
kraten doch nur ein bis zwei Millionen ausmachten: "Auch die übrigen Ar¬
beiter haben sämtlich diese Vorlage als gegen sie, ihre Interessen, ihr berech¬
tigtes vereinsmäßiges Auftreten gerichtet empfunden."

Nun hat Schmoller außerdem noch Umstände bezeichnet, die den von ihm
ausgespielten "falschen Schein" verursacht hätte" und so mittelbar seine Zu¬
stimmung zu dem Entrüstungsvotum des Reichstags begründen sollen. Zu¬
nächst die Reformbedürftigkeit des Arbeitervercinsrechts und des Koalitions¬
rechts überhaupt, das er "für so unvollkommen, unsicher, ungleichmäßig in
der Anwendung in wichtigen Punkten, für so ungerecht" erklärt, daß er es
"als unerträglich bezeichnen möchte." Er erwähnte nur ein -- doch wohl
besonders sprechendes -- Beispiel, aber man höre, was für eins: "die Un¬
sicherheit in Bezug darauf, ob die Versicherungsgesetze auf die Arbeitervereine
angewendet werden sollen, die Wärter-, Streik-, Krankenunterstützungen geben."
Dadurch also sollen die Massen und Millionen so verbittert werden, daß die
Regierungen die an sich von Schmoller selbst als "diskutabel" erklärte Ab¬
änderung der Strafbestimmungen des § 153 der Gewerbeordnung, die gar
nichts mit jenen Gesetzen zu thun haben, nicht zur Diskusston zu stellen hätte
wagen dürfen, ohne zugleich alle derartigen Mängel des bestehenden Vereins-,
Versicherungs- usw. Rechts auszumerzen? Besser konnte Schmoller die Stellung
des Abgeordneten Dr. Lieber, die er ganz zu der seinen macht: "die Straf¬
paragraphen seien nur diskutierbar im Zusammenhang mit einer Reform des
Arbeitervereinsrechts und des gesamten bestehenden Koalitionsrechts" -- nicht
in ihrem wahren Wert illustrieren, als durch dieses eine Beispiel. Hier kann
im übrigen einfach auf das, was über Liebers Rolle in der Entrüstungskomödie
gesagt ist, verwiesen werden.

Ferner hat Schmoller behauptet, die Regierung fördre alle andern Korpo¬
ration^ und Vereinsbildungen, z. B. die Innungen, die Landwirtschafts¬
kammern usw., nur die der Arbeiter nicht, ja sie erschwere den Fach- und Ge¬
werkvereinen das Leben. Die letzte, ganz ohne Beweis gelassene Behauptung


Grenzboten III 1899 27
Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

hatte. Der berufne Sozialhistoriograph der preußischen Krone, Professor
Schmoller, wird doch wohl pflichtschuldigst in seinen Akten zur Geschichte der
Gegenwart registrieren, daß die Verlepschische Fronde, und zwar im Verein mit
der sozialdemokratischen und demokratischen Parteileitung, Jahr und Tag alle
Hebel in Bewegung gesetzt hat, den „falschen Schein," der jetzt ausgespielt wird,
bei den „Massen und Millionen" zu erregen. Er wird dabei auch wahrheits¬
gemäß zu notieren haben, bei welchem Teil der Massen sie dabei Erfolg gehabt
haben- Die Wahrheit darüber ist schon dahin festgelegt worden, daß dieser
Erfolg, abgesehen von den den Führern blind folgenden, schon bestehenden
Kampf- und Agitationsorganisationen, minimal ist. Es ist eine ganz horrende,
einem Historiker niemals zu verzeihende Übertreibung, wenn Schmoller sagte,
wir hätten zwölf bis vierzehn Millionen Arbeiter, von denen die Sozialdemo¬
kraten doch nur ein bis zwei Millionen ausmachten: „Auch die übrigen Ar¬
beiter haben sämtlich diese Vorlage als gegen sie, ihre Interessen, ihr berech¬
tigtes vereinsmäßiges Auftreten gerichtet empfunden."

Nun hat Schmoller außerdem noch Umstände bezeichnet, die den von ihm
ausgespielten „falschen Schein" verursacht hätte« und so mittelbar seine Zu¬
stimmung zu dem Entrüstungsvotum des Reichstags begründen sollen. Zu¬
nächst die Reformbedürftigkeit des Arbeitervercinsrechts und des Koalitions¬
rechts überhaupt, das er „für so unvollkommen, unsicher, ungleichmäßig in
der Anwendung in wichtigen Punkten, für so ungerecht" erklärt, daß er es
„als unerträglich bezeichnen möchte." Er erwähnte nur ein — doch wohl
besonders sprechendes — Beispiel, aber man höre, was für eins: „die Un¬
sicherheit in Bezug darauf, ob die Versicherungsgesetze auf die Arbeitervereine
angewendet werden sollen, die Wärter-, Streik-, Krankenunterstützungen geben."
Dadurch also sollen die Massen und Millionen so verbittert werden, daß die
Regierungen die an sich von Schmoller selbst als „diskutabel" erklärte Ab¬
änderung der Strafbestimmungen des § 153 der Gewerbeordnung, die gar
nichts mit jenen Gesetzen zu thun haben, nicht zur Diskusston zu stellen hätte
wagen dürfen, ohne zugleich alle derartigen Mängel des bestehenden Vereins-,
Versicherungs- usw. Rechts auszumerzen? Besser konnte Schmoller die Stellung
des Abgeordneten Dr. Lieber, die er ganz zu der seinen macht: „die Straf¬
paragraphen seien nur diskutierbar im Zusammenhang mit einer Reform des
Arbeitervereinsrechts und des gesamten bestehenden Koalitionsrechts" — nicht
in ihrem wahren Wert illustrieren, als durch dieses eine Beispiel. Hier kann
im übrigen einfach auf das, was über Liebers Rolle in der Entrüstungskomödie
gesagt ist, verwiesen werden.

Ferner hat Schmoller behauptet, die Regierung fördre alle andern Korpo¬
ration^ und Vereinsbildungen, z. B. die Innungen, die Landwirtschafts¬
kammern usw., nur die der Arbeiter nicht, ja sie erschwere den Fach- und Ge¬
werkvereinen das Leben. Die letzte, ganz ohne Beweis gelassene Behauptung


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[0217] Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage hatte. Der berufne Sozialhistoriograph der preußischen Krone, Professor Schmoller, wird doch wohl pflichtschuldigst in seinen Akten zur Geschichte der Gegenwart registrieren, daß die Verlepschische Fronde, und zwar im Verein mit der sozialdemokratischen und demokratischen Parteileitung, Jahr und Tag alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, den „falschen Schein," der jetzt ausgespielt wird, bei den „Massen und Millionen" zu erregen. Er wird dabei auch wahrheits¬ gemäß zu notieren haben, bei welchem Teil der Massen sie dabei Erfolg gehabt haben- Die Wahrheit darüber ist schon dahin festgelegt worden, daß dieser Erfolg, abgesehen von den den Führern blind folgenden, schon bestehenden Kampf- und Agitationsorganisationen, minimal ist. Es ist eine ganz horrende, einem Historiker niemals zu verzeihende Übertreibung, wenn Schmoller sagte, wir hätten zwölf bis vierzehn Millionen Arbeiter, von denen die Sozialdemo¬ kraten doch nur ein bis zwei Millionen ausmachten: „Auch die übrigen Ar¬ beiter haben sämtlich diese Vorlage als gegen sie, ihre Interessen, ihr berech¬ tigtes vereinsmäßiges Auftreten gerichtet empfunden." Nun hat Schmoller außerdem noch Umstände bezeichnet, die den von ihm ausgespielten „falschen Schein" verursacht hätte« und so mittelbar seine Zu¬ stimmung zu dem Entrüstungsvotum des Reichstags begründen sollen. Zu¬ nächst die Reformbedürftigkeit des Arbeitervercinsrechts und des Koalitions¬ rechts überhaupt, das er „für so unvollkommen, unsicher, ungleichmäßig in der Anwendung in wichtigen Punkten, für so ungerecht" erklärt, daß er es „als unerträglich bezeichnen möchte." Er erwähnte nur ein — doch wohl besonders sprechendes — Beispiel, aber man höre, was für eins: „die Un¬ sicherheit in Bezug darauf, ob die Versicherungsgesetze auf die Arbeitervereine angewendet werden sollen, die Wärter-, Streik-, Krankenunterstützungen geben." Dadurch also sollen die Massen und Millionen so verbittert werden, daß die Regierungen die an sich von Schmoller selbst als „diskutabel" erklärte Ab¬ änderung der Strafbestimmungen des § 153 der Gewerbeordnung, die gar nichts mit jenen Gesetzen zu thun haben, nicht zur Diskusston zu stellen hätte wagen dürfen, ohne zugleich alle derartigen Mängel des bestehenden Vereins-, Versicherungs- usw. Rechts auszumerzen? Besser konnte Schmoller die Stellung des Abgeordneten Dr. Lieber, die er ganz zu der seinen macht: „die Straf¬ paragraphen seien nur diskutierbar im Zusammenhang mit einer Reform des Arbeitervereinsrechts und des gesamten bestehenden Koalitionsrechts" — nicht in ihrem wahren Wert illustrieren, als durch dieses eine Beispiel. Hier kann im übrigen einfach auf das, was über Liebers Rolle in der Entrüstungskomödie gesagt ist, verwiesen werden. Ferner hat Schmoller behauptet, die Regierung fördre alle andern Korpo¬ ration^ und Vereinsbildungen, z. B. die Innungen, die Landwirtschafts¬ kammern usw., nur die der Arbeiter nicht, ja sie erschwere den Fach- und Ge¬ werkvereinen das Leben. Die letzte, ganz ohne Beweis gelassene Behauptung Grenzboten III 1899 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/217>, abgerufen am 15.01.2025.