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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

kathedersozialistische Urteil ist besonders der Entrüstung über den sogenannten
Zuchthansparagraphen gegenüber zu beachten.

Kurz berührt seien ferner die Nerhcmdluugen des neunten Evangelisch¬
sozialen Kongresses vom 2. und 3. Juni 1898, wo Professor Stieda über die
Arbeiterorganisation referierte. Stieda forderte zweierlei: erstens die gesetzliche
Verleihung der Rechtsfähigkeit an die sogenannten Bernfsvereine und zweitens
Arbeiterkammern. Es ist darüber in Heft 33 der Grenzboten von 1898 aus¬
führlich gesprochen worden. Der Verlauf der Verhandlungen stellte die Un-
wichtigkeit der ersten Forderung für den Zweck der Arbeiterkoalitionen außer
Zweifel, und die zweite Forderung lehnte der Kongreß ab. Ein so maßvoller
Kathedersozialist wie Stieda wird wohl nicht geneigt sein, dem demonstrativen
Verhalten des Reichstags in der Frage das Wort zu reden. Die Verhand¬
lungen des Kongresses überhaupt lassen die jetzt herausgekehrte Entrüstung
eher lächerlich als berechtigt erscheinen.

Ungleich bedeutsamer für die hier behandelte Frage ist es, daß der Verein
für Sozialpolitik, der doch auch die wissenschaftliche Vertretung der Arbeiter¬
interessen in besonderen Maße als seine Domäne betrachtet, für die im Sep¬
tember 1897 in Köln abgchaltne Generalversammlung das Thema: "Die
Handhabung des Vereins- und Koalitionsrechts der Arbeiter im Deutschen
Reiche" auf die Tagesordnung gesetzt hatte, fünfundzwanzig Jahre nachdem in
der konstituierenden Versammlung des Vereins zu Eisenach (am 6. und 7. Ok¬
tober 1872) dasselbe Thema (Arbeitseinstellungen und Gewerkvereine) lange
und lebhaft besprochen worden war, und schon ganze drei Monate nach der
Bielefelder Kaiserrede. Die Agitation gegen den Schutz der Arbeitswilligen
war schon im Gange, und die Berlepschische Fronde gegen den neusten Kurs
war schon gebildet. Hier hatte die deutsche Staatswissenschaft, soweit sie es
für nötig hielt, ganz besonders Veranlassung und Beruf, Stellung zur Sache
zu nehmen, und wenn sie Grund sich zu entrüsten fand, ihrer Entrüstung Luft
zu machen. Es muß deshalb ans diese Versammlung des Vereins für Sozial¬
politik ausführlicher eingegangen werden, um so mehr, als ihr Ergebnis in
der jetzt schwebenden akuten Frage bisher viel zu wenig gewürdigt worden ist.

Es kommt dabei in erster Linie das Urteil des mit dem Hauptreferat be¬
trauten Professors Löning (Halle) in Betracht. Er hatte schon vor der Ver¬
sammlung einen schriftlichen Bericht veröffentlicht, worin er eine erschöpfende
Übersicht über das in den verschiednen Staaten geltende Recht gab und im
besondern über das Bedürfnis nach einer Verschärfung und Erweiterung der
Strafmittel gegen den Mißbrauch der Koalitions- und Streikfreiheit -- unter
wärmster Befürwortung dieser Freiheit für die Arbeiter, und zwar auch für
die landwirtschaftlichen -- in der Hauptsache folgendermaßen urteilte: Indem
der Staat die Koalitionsfreiheit gewähre, sei er auch verpflichtet, dafür Sorge
zu tragen, daß nicht von einem Teil der Arbeiter gegen den andern ein Koali-


Grenzbotcn IN 1899 2<i
Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

kathedersozialistische Urteil ist besonders der Entrüstung über den sogenannten
Zuchthansparagraphen gegenüber zu beachten.

Kurz berührt seien ferner die Nerhcmdluugen des neunten Evangelisch¬
sozialen Kongresses vom 2. und 3. Juni 1898, wo Professor Stieda über die
Arbeiterorganisation referierte. Stieda forderte zweierlei: erstens die gesetzliche
Verleihung der Rechtsfähigkeit an die sogenannten Bernfsvereine und zweitens
Arbeiterkammern. Es ist darüber in Heft 33 der Grenzboten von 1898 aus¬
führlich gesprochen worden. Der Verlauf der Verhandlungen stellte die Un-
wichtigkeit der ersten Forderung für den Zweck der Arbeiterkoalitionen außer
Zweifel, und die zweite Forderung lehnte der Kongreß ab. Ein so maßvoller
Kathedersozialist wie Stieda wird wohl nicht geneigt sein, dem demonstrativen
Verhalten des Reichstags in der Frage das Wort zu reden. Die Verhand¬
lungen des Kongresses überhaupt lassen die jetzt herausgekehrte Entrüstung
eher lächerlich als berechtigt erscheinen.

Ungleich bedeutsamer für die hier behandelte Frage ist es, daß der Verein
für Sozialpolitik, der doch auch die wissenschaftliche Vertretung der Arbeiter¬
interessen in besonderen Maße als seine Domäne betrachtet, für die im Sep¬
tember 1897 in Köln abgchaltne Generalversammlung das Thema: „Die
Handhabung des Vereins- und Koalitionsrechts der Arbeiter im Deutschen
Reiche" auf die Tagesordnung gesetzt hatte, fünfundzwanzig Jahre nachdem in
der konstituierenden Versammlung des Vereins zu Eisenach (am 6. und 7. Ok¬
tober 1872) dasselbe Thema (Arbeitseinstellungen und Gewerkvereine) lange
und lebhaft besprochen worden war, und schon ganze drei Monate nach der
Bielefelder Kaiserrede. Die Agitation gegen den Schutz der Arbeitswilligen
war schon im Gange, und die Berlepschische Fronde gegen den neusten Kurs
war schon gebildet. Hier hatte die deutsche Staatswissenschaft, soweit sie es
für nötig hielt, ganz besonders Veranlassung und Beruf, Stellung zur Sache
zu nehmen, und wenn sie Grund sich zu entrüsten fand, ihrer Entrüstung Luft
zu machen. Es muß deshalb ans diese Versammlung des Vereins für Sozial¬
politik ausführlicher eingegangen werden, um so mehr, als ihr Ergebnis in
der jetzt schwebenden akuten Frage bisher viel zu wenig gewürdigt worden ist.

Es kommt dabei in erster Linie das Urteil des mit dem Hauptreferat be¬
trauten Professors Löning (Halle) in Betracht. Er hatte schon vor der Ver¬
sammlung einen schriftlichen Bericht veröffentlicht, worin er eine erschöpfende
Übersicht über das in den verschiednen Staaten geltende Recht gab und im
besondern über das Bedürfnis nach einer Verschärfung und Erweiterung der
Strafmittel gegen den Mißbrauch der Koalitions- und Streikfreiheit — unter
wärmster Befürwortung dieser Freiheit für die Arbeiter, und zwar auch für
die landwirtschaftlichen — in der Hauptsache folgendermaßen urteilte: Indem
der Staat die Koalitionsfreiheit gewähre, sei er auch verpflichtet, dafür Sorge
zu tragen, daß nicht von einem Teil der Arbeiter gegen den andern ein Koali-


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[0209] Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage kathedersozialistische Urteil ist besonders der Entrüstung über den sogenannten Zuchthansparagraphen gegenüber zu beachten. Kurz berührt seien ferner die Nerhcmdluugen des neunten Evangelisch¬ sozialen Kongresses vom 2. und 3. Juni 1898, wo Professor Stieda über die Arbeiterorganisation referierte. Stieda forderte zweierlei: erstens die gesetzliche Verleihung der Rechtsfähigkeit an die sogenannten Bernfsvereine und zweitens Arbeiterkammern. Es ist darüber in Heft 33 der Grenzboten von 1898 aus¬ führlich gesprochen worden. Der Verlauf der Verhandlungen stellte die Un- wichtigkeit der ersten Forderung für den Zweck der Arbeiterkoalitionen außer Zweifel, und die zweite Forderung lehnte der Kongreß ab. Ein so maßvoller Kathedersozialist wie Stieda wird wohl nicht geneigt sein, dem demonstrativen Verhalten des Reichstags in der Frage das Wort zu reden. Die Verhand¬ lungen des Kongresses überhaupt lassen die jetzt herausgekehrte Entrüstung eher lächerlich als berechtigt erscheinen. Ungleich bedeutsamer für die hier behandelte Frage ist es, daß der Verein für Sozialpolitik, der doch auch die wissenschaftliche Vertretung der Arbeiter¬ interessen in besonderen Maße als seine Domäne betrachtet, für die im Sep¬ tember 1897 in Köln abgchaltne Generalversammlung das Thema: „Die Handhabung des Vereins- und Koalitionsrechts der Arbeiter im Deutschen Reiche" auf die Tagesordnung gesetzt hatte, fünfundzwanzig Jahre nachdem in der konstituierenden Versammlung des Vereins zu Eisenach (am 6. und 7. Ok¬ tober 1872) dasselbe Thema (Arbeitseinstellungen und Gewerkvereine) lange und lebhaft besprochen worden war, und schon ganze drei Monate nach der Bielefelder Kaiserrede. Die Agitation gegen den Schutz der Arbeitswilligen war schon im Gange, und die Berlepschische Fronde gegen den neusten Kurs war schon gebildet. Hier hatte die deutsche Staatswissenschaft, soweit sie es für nötig hielt, ganz besonders Veranlassung und Beruf, Stellung zur Sache zu nehmen, und wenn sie Grund sich zu entrüsten fand, ihrer Entrüstung Luft zu machen. Es muß deshalb ans diese Versammlung des Vereins für Sozial¬ politik ausführlicher eingegangen werden, um so mehr, als ihr Ergebnis in der jetzt schwebenden akuten Frage bisher viel zu wenig gewürdigt worden ist. Es kommt dabei in erster Linie das Urteil des mit dem Hauptreferat be¬ trauten Professors Löning (Halle) in Betracht. Er hatte schon vor der Ver¬ sammlung einen schriftlichen Bericht veröffentlicht, worin er eine erschöpfende Übersicht über das in den verschiednen Staaten geltende Recht gab und im besondern über das Bedürfnis nach einer Verschärfung und Erweiterung der Strafmittel gegen den Mißbrauch der Koalitions- und Streikfreiheit — unter wärmster Befürwortung dieser Freiheit für die Arbeiter, und zwar auch für die landwirtschaftlichen — in der Hauptsache folgendermaßen urteilte: Indem der Staat die Koalitionsfreiheit gewähre, sei er auch verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, daß nicht von einem Teil der Arbeiter gegen den andern ein Koali- Grenzbotcn IN 1899 2<i

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/209>, abgerufen am 15.01.2025.