Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches sei, die Ilias und Odyssee für Kompilationen zu halten. Und den armen Aristoteles Maßgebliches und Unmaßgebliches sei, die Ilias und Odyssee für Kompilationen zu halten. Und den armen Aristoteles <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0199" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231369"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_627" prev="#ID_626" next="#ID_628"> sei, die Ilias und Odyssee für Kompilationen zu halten. Und den armen Aristoteles<lb/> macht er vorzugsweise dafür verantwortlich, daß die edle, von allem Aberglauben<lb/> freie Religion Homers und die echte Philosophie der großen Dichter von zwei<lb/> Mächten zerstört worden sei, die, an sich einander feindlich, sich doch zum bösen<lb/> Werke die Hand gereicht hätten: dem pfäffischen Aberglauben und der vernünftelnden<lb/> Kausalitätsjägerei. Auf den prachtvollen Abschnitt über Rom, der am wenigsten<lb/> anfechtbares enthält, kommen wir bei einer andern Gelegenheit zurück. Bei der<lb/> Darstellung des Judentums arten die geistreichen Antithesen in Paradoxien ans.<lb/> Auch wir sind weit entfernt davon, mit den Kirchenvätern den heidnischen Polytheis¬<lb/> mus zu verabscheuen und den jüdischen Monotheismus hoch über die Religion der<lb/> Hellenen zu stellen. Aber es geht zu weit, wenn Chamberlain meint: „In Wahrheit<lb/> sind die Semiten wahrscheinlich die einzigen Menschen auf der ganzen Erde, die<lb/> überhaupt jemals echte Götzenanbeter waren und sein konnten." Und: „Von dem<lb/> indoeuropäischen Standpunkt aus betrachtet wäre Jahve eigentlich eher ein ideali¬<lb/> sierter Götze oder, wenn man will, ein Autigötze zu neunen als ein Gott." Chamberlain<lb/> findet nämlich das Wesen der indoeuropäischen Religion in der Anerkennung der<lb/> die Welt durchwalteuden Gesetzmäßigkeit, das der jüdischen im Glauben an die<lb/> Willkür Jahveh. Aber gleich das stärkste Beispiel für diese vermeintliche Willkür,<lb/> das er anführt, widerlegt ihn: der Befehl, die Palästinenser auszurotten. Chamberlain<lb/> selbst hat wunderschön bewiesen, daß und warum die Karthager ausgerottet werde«<lb/> mußten, wenn sich die europäische Kultur behaupten sollte. Nun waren aber die<lb/> dem Anathem verfallenen Palästinenser die Stammverwandten der Kathager. Wäre<lb/> wohl Jesus denkbar gewesen, wenn er unter einer Horde von Moloch- und Astarte¬<lb/> anbetern hätte leben sollen? Daß Jesus, obwohl arischer Abstammung, des Juden¬<lb/> tums zur Entfaltung seiner Eigenart bedurft habe, giebt auch Chamberlain zu. Die<lb/> jüdische Eigentümlichkeit besteht nach ihm in der Vorherrschaft des Willens, in der<lb/> Willkür, und Jesus, im Gegensatz zu Buddha keineswegs Willensverneiner, sondern<lb/> Lebeusbejaher, habe durch Umkehr der Willensrichtung den Zerstörer in einen Schöpfer<lb/> und Erbauer, den Gott des Zorns in einen Gott der Liebe verwandelt. Das läßt<lb/> sich hören, aber worin nun eigentlich die Umwendung der Willensrichtung besteht,<lb/> weiß er uns nicht klar zu machen. Freilich leuchtet ein, daß Jesus mit seinem:<lb/> „Sorget nicht für den morgigen Tag" den auf Besitz erpichten Juden als ein<lb/> frevelhafter Zerstörer der bürgerlichen Ordnung erscheinen mußte <S. 240). Aber<lb/> den heutigen Engländern, und nicht bloß diesen, doch wohl auch, und es ist die<lb/> Frage, ob die Menschheit mit dieser umgekehrten Willensrichtung überhaupt fort¬<lb/> bestehen könnte. Chamberlain bemerkt ganz richtig, daß, wenn die kopernikanische<lb/> Weltansicht, die doch gar kein Interesse verletzt, zweihundert Jahre gebraucht habe,<lb/> um durchzudringen — eigentlich zweitausend, da schon Nristarch sie ausgesprochen<lb/> hat —, so sei es kein Wunder, wenn die in so viele Interessen tief einschneidende<lb/> Weltansicht Christi eine noch längere Zeit brauche. Dagegen wäre unes dem oben<lb/> Gesagten zu erwägen, ob sie überhaupt durchdringen soll und kann; ob sie nicht<lb/> von Anfang an von einer kleinen Schar richtig verstanden und angewandt worden<lb/> ist und bis zum Ende das Eigentum einer kleinen Minderheit bleiben soll. Auch<lb/> die Metaphysik Chamberlains bleibt vorläufig zweifelhaft; bald verweist er den<lb/> Seelen- und Unsterblichkeitsglauben in den Bereich des Aberglaubens, bald feiert<lb/> er Jesum als den Bringer des ewigen Lebeus. Die Orthodoxen werden daher<lb/> von ihm dasselbe sagen, was er von Augustinus sagt, daß es „in diesem so emi¬<lb/> nenten Kopfe heillos chaotisch" zugehe. Chamberlain wird dagegen einwenden, das<lb/> könne bei ihm schon aus dem Grunde nicht der Fall sein, weil er ein rassenreincr</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0199]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
sei, die Ilias und Odyssee für Kompilationen zu halten. Und den armen Aristoteles
macht er vorzugsweise dafür verantwortlich, daß die edle, von allem Aberglauben
freie Religion Homers und die echte Philosophie der großen Dichter von zwei
Mächten zerstört worden sei, die, an sich einander feindlich, sich doch zum bösen
Werke die Hand gereicht hätten: dem pfäffischen Aberglauben und der vernünftelnden
Kausalitätsjägerei. Auf den prachtvollen Abschnitt über Rom, der am wenigsten
anfechtbares enthält, kommen wir bei einer andern Gelegenheit zurück. Bei der
Darstellung des Judentums arten die geistreichen Antithesen in Paradoxien ans.
Auch wir sind weit entfernt davon, mit den Kirchenvätern den heidnischen Polytheis¬
mus zu verabscheuen und den jüdischen Monotheismus hoch über die Religion der
Hellenen zu stellen. Aber es geht zu weit, wenn Chamberlain meint: „In Wahrheit
sind die Semiten wahrscheinlich die einzigen Menschen auf der ganzen Erde, die
überhaupt jemals echte Götzenanbeter waren und sein konnten." Und: „Von dem
indoeuropäischen Standpunkt aus betrachtet wäre Jahve eigentlich eher ein ideali¬
sierter Götze oder, wenn man will, ein Autigötze zu neunen als ein Gott." Chamberlain
findet nämlich das Wesen der indoeuropäischen Religion in der Anerkennung der
die Welt durchwalteuden Gesetzmäßigkeit, das der jüdischen im Glauben an die
Willkür Jahveh. Aber gleich das stärkste Beispiel für diese vermeintliche Willkür,
das er anführt, widerlegt ihn: der Befehl, die Palästinenser auszurotten. Chamberlain
selbst hat wunderschön bewiesen, daß und warum die Karthager ausgerottet werde«
mußten, wenn sich die europäische Kultur behaupten sollte. Nun waren aber die
dem Anathem verfallenen Palästinenser die Stammverwandten der Kathager. Wäre
wohl Jesus denkbar gewesen, wenn er unter einer Horde von Moloch- und Astarte¬
anbetern hätte leben sollen? Daß Jesus, obwohl arischer Abstammung, des Juden¬
tums zur Entfaltung seiner Eigenart bedurft habe, giebt auch Chamberlain zu. Die
jüdische Eigentümlichkeit besteht nach ihm in der Vorherrschaft des Willens, in der
Willkür, und Jesus, im Gegensatz zu Buddha keineswegs Willensverneiner, sondern
Lebeusbejaher, habe durch Umkehr der Willensrichtung den Zerstörer in einen Schöpfer
und Erbauer, den Gott des Zorns in einen Gott der Liebe verwandelt. Das läßt
sich hören, aber worin nun eigentlich die Umwendung der Willensrichtung besteht,
weiß er uns nicht klar zu machen. Freilich leuchtet ein, daß Jesus mit seinem:
„Sorget nicht für den morgigen Tag" den auf Besitz erpichten Juden als ein
frevelhafter Zerstörer der bürgerlichen Ordnung erscheinen mußte <S. 240). Aber
den heutigen Engländern, und nicht bloß diesen, doch wohl auch, und es ist die
Frage, ob die Menschheit mit dieser umgekehrten Willensrichtung überhaupt fort¬
bestehen könnte. Chamberlain bemerkt ganz richtig, daß, wenn die kopernikanische
Weltansicht, die doch gar kein Interesse verletzt, zweihundert Jahre gebraucht habe,
um durchzudringen — eigentlich zweitausend, da schon Nristarch sie ausgesprochen
hat —, so sei es kein Wunder, wenn die in so viele Interessen tief einschneidende
Weltansicht Christi eine noch längere Zeit brauche. Dagegen wäre unes dem oben
Gesagten zu erwägen, ob sie überhaupt durchdringen soll und kann; ob sie nicht
von Anfang an von einer kleinen Schar richtig verstanden und angewandt worden
ist und bis zum Ende das Eigentum einer kleinen Minderheit bleiben soll. Auch
die Metaphysik Chamberlains bleibt vorläufig zweifelhaft; bald verweist er den
Seelen- und Unsterblichkeitsglauben in den Bereich des Aberglaubens, bald feiert
er Jesum als den Bringer des ewigen Lebeus. Die Orthodoxen werden daher
von ihm dasselbe sagen, was er von Augustinus sagt, daß es „in diesem so emi¬
nenten Kopfe heillos chaotisch" zugehe. Chamberlain wird dagegen einwenden, das
könne bei ihm schon aus dem Grunde nicht der Fall sein, weil er ein rassenreincr
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