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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Der Aschenkrug und die treulose Witwe

Nun schlägt sie selbst dem Toten die Zähne aus. Aber auch eine Wunde
hat er am Leibe gehabt, sagt der Hauptmann, und die Ohren waren ihm ab¬
geschnitten.

Wieder weiß sie Rat: Dann thu ihm das auch.

Nein, sagt der Hauptmann, wenn ein Lebendiger einen Toten schlage, das
brächte ihm geringe Ehr.

Jetzt besorgt sie selbst auch diese Verstümmelung. Dann hängen beide ge¬
meinsam die so zugerichtete Leiche auf. Nun will sie mit ihm zum Priester gehn.
Er jedoch hat von ihr genug.

Und er schlägt ihr den Kopf ab.

Es versteht sich, daß Hans von Bühel nicht der einzige ist, der mit der Witwe
streng ins Gericht geht. In einer Stuttgarter Handschrift wird ihr nicht nur der
Kopf abgeschnitten, ihr Körper wird auch noch ins Wasser geworfen. Die Mehr¬
zahl der Bearbeiter dieser uralten Geschichte -- und es giebt ihrer in aller Herren
Ländern -- begnügt sich aber mit einem Tadel, oder sie wenden die Sache ins
Komische. Wer sich weiter dafür interessiert, lese Eduard Griesbachs Portreffliche
Abhandlung über diesen Gegenstand.

Ich komme zu der Frage: Woher nahm Petronius diese nichtswürdige Ge¬
schichte? Der ebeu genannte Autor will sie auf Indien zurückverweisen. Aus Indien
sei anch jene chinesische Novelle entsprungen, die etwa vor hundertvierzig Jahren
durch französische Jesuiten nach Europa kam, aber uns erst vor kurzem durch eine
englische Übersetzung des Originals in diplomatischer Genauigkeit zugänglich ge¬
worden ist.

Folgendermaßen läßt sich nun die chinesische Novelle skizzieren. Tschwang-
Scmg ist ein Weiser. Auf seineu einsamen Gängen kommt er einst in die Nähe
eines vernachlässigten Kirchhofs. Dort sieht er eine junge Frau in schlichtem Kleide
auf einem frischen Hügel sitzen und ihn mit ihrem Fächer fächeln. Auf seine Frage,
wer dort begraben sei, giebt sie zur Antwort: Der in diesem Grabe liegt, ist der
arme Narr, mein verstorbner Mann. . . . Als letzten Wunsch sprach er aus: Wann
ich wieder heiraten wolle, so möge ich warten, bis die Erde über seinem Grabe
trocken geworden sei.

Tschwang-Sang wundert sich natürlich über diese Antwort, erbietet sich aber,
die Frau bei der Arbeit abzulösen, worauf sie mit Freuden eingeht. Dann, als
der Hügel trocken ist, verehrt sie ihm ihren schönen weißen Fächer und geht lachend
fort, während er gedankenvoll heimkehrt. Seine junge Frau -- zwei hatte er
schon verloren -- hört ihn seufzen. Er erzählt ihr den Vorgang. Sie erklärt
das Fächerweib für ein Wesen ohne Scham und Tugend und zerbricht zornig den
Fächer. Und da er meint: die Kenntnis des menschlichen Antlitzes sei noch nicht
die Kenntnis des menschlichen Herzens, vermißt sie sich: wenn er sterben sollte,
werde sie bis an ihr Lebensende Witwe bleiben. Einige Tage darauf erkrankt er.
Bald wirst du bedauern, den Fächer zerbrochen zu haben, seufzt er. Sie aber schwört,
sie heirate nach seinem Tode nicht wieder, und erbietet sich auf der Stelle, sich
selbst den Tod zu geben.


Der Aschenkrug und die treulose Witwe

Nun schlägt sie selbst dem Toten die Zähne aus. Aber auch eine Wunde
hat er am Leibe gehabt, sagt der Hauptmann, und die Ohren waren ihm ab¬
geschnitten.

Wieder weiß sie Rat: Dann thu ihm das auch.

Nein, sagt der Hauptmann, wenn ein Lebendiger einen Toten schlage, das
brächte ihm geringe Ehr.

Jetzt besorgt sie selbst auch diese Verstümmelung. Dann hängen beide ge¬
meinsam die so zugerichtete Leiche auf. Nun will sie mit ihm zum Priester gehn.
Er jedoch hat von ihr genug.

Und er schlägt ihr den Kopf ab.

Es versteht sich, daß Hans von Bühel nicht der einzige ist, der mit der Witwe
streng ins Gericht geht. In einer Stuttgarter Handschrift wird ihr nicht nur der
Kopf abgeschnitten, ihr Körper wird auch noch ins Wasser geworfen. Die Mehr¬
zahl der Bearbeiter dieser uralten Geschichte — und es giebt ihrer in aller Herren
Ländern — begnügt sich aber mit einem Tadel, oder sie wenden die Sache ins
Komische. Wer sich weiter dafür interessiert, lese Eduard Griesbachs Portreffliche
Abhandlung über diesen Gegenstand.

Ich komme zu der Frage: Woher nahm Petronius diese nichtswürdige Ge¬
schichte? Der ebeu genannte Autor will sie auf Indien zurückverweisen. Aus Indien
sei anch jene chinesische Novelle entsprungen, die etwa vor hundertvierzig Jahren
durch französische Jesuiten nach Europa kam, aber uns erst vor kurzem durch eine
englische Übersetzung des Originals in diplomatischer Genauigkeit zugänglich ge¬
worden ist.

Folgendermaßen läßt sich nun die chinesische Novelle skizzieren. Tschwang-
Scmg ist ein Weiser. Auf seineu einsamen Gängen kommt er einst in die Nähe
eines vernachlässigten Kirchhofs. Dort sieht er eine junge Frau in schlichtem Kleide
auf einem frischen Hügel sitzen und ihn mit ihrem Fächer fächeln. Auf seine Frage,
wer dort begraben sei, giebt sie zur Antwort: Der in diesem Grabe liegt, ist der
arme Narr, mein verstorbner Mann. . . . Als letzten Wunsch sprach er aus: Wann
ich wieder heiraten wolle, so möge ich warten, bis die Erde über seinem Grabe
trocken geworden sei.

Tschwang-Sang wundert sich natürlich über diese Antwort, erbietet sich aber,
die Frau bei der Arbeit abzulösen, worauf sie mit Freuden eingeht. Dann, als
der Hügel trocken ist, verehrt sie ihm ihren schönen weißen Fächer und geht lachend
fort, während er gedankenvoll heimkehrt. Seine junge Frau — zwei hatte er
schon verloren — hört ihn seufzen. Er erzählt ihr den Vorgang. Sie erklärt
das Fächerweib für ein Wesen ohne Scham und Tugend und zerbricht zornig den
Fächer. Und da er meint: die Kenntnis des menschlichen Antlitzes sei noch nicht
die Kenntnis des menschlichen Herzens, vermißt sie sich: wenn er sterben sollte,
werde sie bis an ihr Lebensende Witwe bleiben. Einige Tage darauf erkrankt er.
Bald wirst du bedauern, den Fächer zerbrochen zu haben, seufzt er. Sie aber schwört,
sie heirate nach seinem Tode nicht wieder, und erbietet sich auf der Stelle, sich
selbst den Tod zu geben.


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[0146] Der Aschenkrug und die treulose Witwe Nun schlägt sie selbst dem Toten die Zähne aus. Aber auch eine Wunde hat er am Leibe gehabt, sagt der Hauptmann, und die Ohren waren ihm ab¬ geschnitten. Wieder weiß sie Rat: Dann thu ihm das auch. Nein, sagt der Hauptmann, wenn ein Lebendiger einen Toten schlage, das brächte ihm geringe Ehr. Jetzt besorgt sie selbst auch diese Verstümmelung. Dann hängen beide ge¬ meinsam die so zugerichtete Leiche auf. Nun will sie mit ihm zum Priester gehn. Er jedoch hat von ihr genug. Und er schlägt ihr den Kopf ab. Es versteht sich, daß Hans von Bühel nicht der einzige ist, der mit der Witwe streng ins Gericht geht. In einer Stuttgarter Handschrift wird ihr nicht nur der Kopf abgeschnitten, ihr Körper wird auch noch ins Wasser geworfen. Die Mehr¬ zahl der Bearbeiter dieser uralten Geschichte — und es giebt ihrer in aller Herren Ländern — begnügt sich aber mit einem Tadel, oder sie wenden die Sache ins Komische. Wer sich weiter dafür interessiert, lese Eduard Griesbachs Portreffliche Abhandlung über diesen Gegenstand. Ich komme zu der Frage: Woher nahm Petronius diese nichtswürdige Ge¬ schichte? Der ebeu genannte Autor will sie auf Indien zurückverweisen. Aus Indien sei anch jene chinesische Novelle entsprungen, die etwa vor hundertvierzig Jahren durch französische Jesuiten nach Europa kam, aber uns erst vor kurzem durch eine englische Übersetzung des Originals in diplomatischer Genauigkeit zugänglich ge¬ worden ist. Folgendermaßen läßt sich nun die chinesische Novelle skizzieren. Tschwang- Scmg ist ein Weiser. Auf seineu einsamen Gängen kommt er einst in die Nähe eines vernachlässigten Kirchhofs. Dort sieht er eine junge Frau in schlichtem Kleide auf einem frischen Hügel sitzen und ihn mit ihrem Fächer fächeln. Auf seine Frage, wer dort begraben sei, giebt sie zur Antwort: Der in diesem Grabe liegt, ist der arme Narr, mein verstorbner Mann. . . . Als letzten Wunsch sprach er aus: Wann ich wieder heiraten wolle, so möge ich warten, bis die Erde über seinem Grabe trocken geworden sei. Tschwang-Sang wundert sich natürlich über diese Antwort, erbietet sich aber, die Frau bei der Arbeit abzulösen, worauf sie mit Freuden eingeht. Dann, als der Hügel trocken ist, verehrt sie ihm ihren schönen weißen Fächer und geht lachend fort, während er gedankenvoll heimkehrt. Seine junge Frau — zwei hatte er schon verloren — hört ihn seufzen. Er erzählt ihr den Vorgang. Sie erklärt das Fächerweib für ein Wesen ohne Scham und Tugend und zerbricht zornig den Fächer. Und da er meint: die Kenntnis des menschlichen Antlitzes sei noch nicht die Kenntnis des menschlichen Herzens, vermißt sie sich: wenn er sterben sollte, werde sie bis an ihr Lebensende Witwe bleiben. Einige Tage darauf erkrankt er. Bald wirst du bedauern, den Fächer zerbrochen zu haben, seufzt er. Sie aber schwört, sie heirate nach seinem Tode nicht wieder, und erbietet sich auf der Stelle, sich selbst den Tod zu geben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/146>, abgerufen am 15.01.2025.