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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

nähere Prüfung des grundsätzlichen Inhalts der Vorlage einzugehn, wie er
durch die Erklärung der Regierungen hinreichend klar bezeichnet war, verleiht
dem Verhalten der Nationalliberalen umso mehr den Charakter der Demon¬
stration, je leichter sie es mit der Begründung genommen haben. Vollends
aber wird dieser Charakter dadurch außer Zweifel gestellt, daß Vasfermann
selbst zugab, ein Teil der Parteigenossen halte die in den ersten Paragraphen
ausgesprochnen Grundsätze "für eine geeignete Grundlage zur weitern Be¬
ratung." Diesen Standpunkt einzunehmen haben die Regierungsvertreter
wiederholt und dringend den Reichstag gebeten, und genau diesen Standpunkt
hat auch der Abgeordnete von Levetzow geltend gemacht. Herr Bassermann
aber setzte sich über ihn mit dem doch selbst die bescheidenste Hundstagslogik
kaum befriedigenden Satze hinweg: "Meine Herren, mit diesem Standpunkte
verwirft man das ganze Gesetz, denn in den Paragraphen 1 und 2 sind die
Gesichtspunktes!) wieder aufgegriffen, die schon im Jahre 1890 und 1891 hier
dieses Haus beschäftigt haben." Und in diesen Satz kommt natürlich auch
nicht der geringste Sinu hinein, wenn der Herr Abgeordnete unmittelbar
wörtlich weiter sagt: "Aber der Schwerpunkt der Gesetzesvorlage liegt nicht
in diesen Bestimmungen, sondern in den nachfolgenden Paragraphen, die
meines Erachtens eine schwere Gefahr für das Koalitionsrecht bedeuten." Das
ist eine Klopffechterei, wie sie sich unsers Wissens ein norddeutscher National¬
liberaler niemals erlaubt hat. Die grundsätzlichen Forderungen des Entwurfs
von 1891 sind eben 1899 wiederholt worden, wie das damals nicht mir der
Freiherr von Berlepsch vorausgesagt hatte, sondern auch ein Führer der
Nationalliberalen selbst, Dr. Hannacher, der in der Sitzung vom 21. April
1891 mit allem Nachdruck aussprach: Lehne man jetzt die Regierungsvorlage
ab, so werde man bald in die Lage kommen, noch schärfere Strafen beschließen
zu müssen.

Oder hatte es etwa mehr Sinn, wenn die Nationalliberalen durch Herrn
Bassermann erklären ließen: Ansammlungen, Zusammenrottungen könnten doch
heute auf Grund der bestehenden strafrechtlichen und polizeilichen Bestimmungen
"vollständig verhindert werden"? Haben auch die Nationalliberalen auf einmal,
seitdem sie sich von der Verlepschischen Fronde haben ins Schlepptau nehmen
lassen, alle praktische Urteilsfähigkeit und Erfahrung verloren? Aber sie haben
noch weiter erklären lassen: "Wenn die Polizei bei großen Unruhen nicht aus¬
reicht, dann nehmen Sie Militär dazu oder die Feuerspritzen. Wir sind ganz
damit einverstanden, daß bei allen Ausschreitungen bei Streiks rücksichtslos von
den bestehenden Machtmitteln des Staats Gebrauch gemacht wird." Der Säbel
und die Flinte also, meinen diese Gemütsmenschen, sollen die Strafen ohne
Urteil und Recht verhängen und auch zugleich vollstrecken. Aber wenn die
verbündeten Regierungen die Natioualliberalen dringend bitten, über eine zweck¬
müßigere Gestaltung der Strafgesetze zu beraten, da rufen sie Zetermordio über


Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

nähere Prüfung des grundsätzlichen Inhalts der Vorlage einzugehn, wie er
durch die Erklärung der Regierungen hinreichend klar bezeichnet war, verleiht
dem Verhalten der Nationalliberalen umso mehr den Charakter der Demon¬
stration, je leichter sie es mit der Begründung genommen haben. Vollends
aber wird dieser Charakter dadurch außer Zweifel gestellt, daß Vasfermann
selbst zugab, ein Teil der Parteigenossen halte die in den ersten Paragraphen
ausgesprochnen Grundsätze „für eine geeignete Grundlage zur weitern Be¬
ratung." Diesen Standpunkt einzunehmen haben die Regierungsvertreter
wiederholt und dringend den Reichstag gebeten, und genau diesen Standpunkt
hat auch der Abgeordnete von Levetzow geltend gemacht. Herr Bassermann
aber setzte sich über ihn mit dem doch selbst die bescheidenste Hundstagslogik
kaum befriedigenden Satze hinweg: „Meine Herren, mit diesem Standpunkte
verwirft man das ganze Gesetz, denn in den Paragraphen 1 und 2 sind die
Gesichtspunktes!) wieder aufgegriffen, die schon im Jahre 1890 und 1891 hier
dieses Haus beschäftigt haben." Und in diesen Satz kommt natürlich auch
nicht der geringste Sinu hinein, wenn der Herr Abgeordnete unmittelbar
wörtlich weiter sagt: „Aber der Schwerpunkt der Gesetzesvorlage liegt nicht
in diesen Bestimmungen, sondern in den nachfolgenden Paragraphen, die
meines Erachtens eine schwere Gefahr für das Koalitionsrecht bedeuten." Das
ist eine Klopffechterei, wie sie sich unsers Wissens ein norddeutscher National¬
liberaler niemals erlaubt hat. Die grundsätzlichen Forderungen des Entwurfs
von 1891 sind eben 1899 wiederholt worden, wie das damals nicht mir der
Freiherr von Berlepsch vorausgesagt hatte, sondern auch ein Führer der
Nationalliberalen selbst, Dr. Hannacher, der in der Sitzung vom 21. April
1891 mit allem Nachdruck aussprach: Lehne man jetzt die Regierungsvorlage
ab, so werde man bald in die Lage kommen, noch schärfere Strafen beschließen
zu müssen.

Oder hatte es etwa mehr Sinn, wenn die Nationalliberalen durch Herrn
Bassermann erklären ließen: Ansammlungen, Zusammenrottungen könnten doch
heute auf Grund der bestehenden strafrechtlichen und polizeilichen Bestimmungen
„vollständig verhindert werden"? Haben auch die Nationalliberalen auf einmal,
seitdem sie sich von der Verlepschischen Fronde haben ins Schlepptau nehmen
lassen, alle praktische Urteilsfähigkeit und Erfahrung verloren? Aber sie haben
noch weiter erklären lassen: „Wenn die Polizei bei großen Unruhen nicht aus¬
reicht, dann nehmen Sie Militär dazu oder die Feuerspritzen. Wir sind ganz
damit einverstanden, daß bei allen Ausschreitungen bei Streiks rücksichtslos von
den bestehenden Machtmitteln des Staats Gebrauch gemacht wird." Der Säbel
und die Flinte also, meinen diese Gemütsmenschen, sollen die Strafen ohne
Urteil und Recht verhängen und auch zugleich vollstrecken. Aber wenn die
verbündeten Regierungen die Natioualliberalen dringend bitten, über eine zweck¬
müßigere Gestaltung der Strafgesetze zu beraten, da rufen sie Zetermordio über


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/120>, abgerufen am 15.01.2025.