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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Möglichkeiten und Notwendigkeiten der auswärtigen Politik Deutschlands

böse Wunsch vorhanden war, aber nicht die Entschlossenheit, die nicht vor den
unabsehbaren Folgen der Entscheidung zurückschreckt. So schien die Zeit des
innern Aufbaus gekommen. Aber unversehens sah man sich einer gänzlich
veränderten Situation gegenüber. In England wurde die Anwandlung eines
Kleinbritanniens ohne Kolonien rasch und ungestüm von einem weltumspannenden
Imperialismus verjagt. Rußland wandte sich vom Westen ab und schob sich
mächtig nach dem Osten vor. Der Sieg Japans gegen China hat in Ostasien
eine neue Großmacht zur See geschaffen. Frankreich hat sich in Afrika und
Asien ein ungeheures Kolonialreich erworben. Die Vereinigten Staaten von
Amerika treten ganz unvermittelt, mit einem Schlage als bestimmend in die
internationale Politik ein. Europa ist nicht mehr allein das Schachbrett, auf
dem die Staatsmänner im Frieden und im Krieg Partien gewinnen oder ver¬
lieren; die Szene hat sich erweitert: die ganze bewohnte Erde ist der Schau¬
platz geworden, auf dem sich nun die großen Entscheidungen der Weltgeschichte
vorbereiten und vollziehen.

Diese neue Epoche wird ebenso durch das Streben nach Weltherrschaft
wie nach Weltwirtschaft bestimmt; der Kampf geht ebenso um die Märkte wie
um die Macht. Sehr nüchterne kaufmännische Erwägungen spielen hier keine
mindere Rolle als der dunkle Drang der Volksseele. Es ist doch in hohem
Maße bedeutungsvoll, daß es gerade die beiden Nationen, die für die nüch¬
ternsten, berechnendsten im ökonomischen Leben gelten, die Engländer und die
Amerikaner sind, bei denen sich jetzt der Expansionsdrang am stürmischsten
äußert, ganz offenbar getragen von dem Willen der Massen, der oft die Neigung
der Regierungen meistert. Wie ein ungestümer Trieb, ein unfehlbarer
Instinkt, der jahrelang schlummert, dann aber mit unwiderstehlicher Gewalt
hervorbricht, sitzt es in diesen Völkern; während in Rußland und Frankreich
die enormen Kolonialreiche weit mehr aus kühlen Kalkulationen der Kabinette
herausgewachsen sind als aus wirtschaftliche" Gründen, ist in England jeder¬
mann ohne Unterschied des Stands, des Berufs und der Partei von der
Überzeugung durchdrungen, daß Handel und Industrie gesicherter Absatzmärkte
bedürfen, und freut sich Jungamerika impulsiv der Weltmachtstellung. Mau
mag vom Standpunkte der Ethik, der Kultur zu dieser Entwicklung stehen,
wie man will, sie loben oder verdammen -- man muß sie als eine unwider¬
rufliche Thatsache anerkennen, mit ihr rechnen, aus ihr für das eigne Volk
die Folgerungen ziehen.

Und diese können nur lauten, daß sich Deutschland diesen neuen Problemen
gar nicht entziehen kann, wenn es nicht blind oder leichtfertig seine Zukunft
in die Schanze schlagen will. Das Deutsche Reich ist schon jetzt keine Kon¬
tinentalmacht mehr, sondern mit tausend Fäden in die Weltinteressen ver¬
flochten. Millionen unsrer Landsleute sind ausgewandert, haben den innern
Zusammenhang mit der Heimat verloren und fremde Staatswesen jenseits des


Möglichkeiten und Notwendigkeiten der auswärtigen Politik Deutschlands

böse Wunsch vorhanden war, aber nicht die Entschlossenheit, die nicht vor den
unabsehbaren Folgen der Entscheidung zurückschreckt. So schien die Zeit des
innern Aufbaus gekommen. Aber unversehens sah man sich einer gänzlich
veränderten Situation gegenüber. In England wurde die Anwandlung eines
Kleinbritanniens ohne Kolonien rasch und ungestüm von einem weltumspannenden
Imperialismus verjagt. Rußland wandte sich vom Westen ab und schob sich
mächtig nach dem Osten vor. Der Sieg Japans gegen China hat in Ostasien
eine neue Großmacht zur See geschaffen. Frankreich hat sich in Afrika und
Asien ein ungeheures Kolonialreich erworben. Die Vereinigten Staaten von
Amerika treten ganz unvermittelt, mit einem Schlage als bestimmend in die
internationale Politik ein. Europa ist nicht mehr allein das Schachbrett, auf
dem die Staatsmänner im Frieden und im Krieg Partien gewinnen oder ver¬
lieren; die Szene hat sich erweitert: die ganze bewohnte Erde ist der Schau¬
platz geworden, auf dem sich nun die großen Entscheidungen der Weltgeschichte
vorbereiten und vollziehen.

Diese neue Epoche wird ebenso durch das Streben nach Weltherrschaft
wie nach Weltwirtschaft bestimmt; der Kampf geht ebenso um die Märkte wie
um die Macht. Sehr nüchterne kaufmännische Erwägungen spielen hier keine
mindere Rolle als der dunkle Drang der Volksseele. Es ist doch in hohem
Maße bedeutungsvoll, daß es gerade die beiden Nationen, die für die nüch¬
ternsten, berechnendsten im ökonomischen Leben gelten, die Engländer und die
Amerikaner sind, bei denen sich jetzt der Expansionsdrang am stürmischsten
äußert, ganz offenbar getragen von dem Willen der Massen, der oft die Neigung
der Regierungen meistert. Wie ein ungestümer Trieb, ein unfehlbarer
Instinkt, der jahrelang schlummert, dann aber mit unwiderstehlicher Gewalt
hervorbricht, sitzt es in diesen Völkern; während in Rußland und Frankreich
die enormen Kolonialreiche weit mehr aus kühlen Kalkulationen der Kabinette
herausgewachsen sind als aus wirtschaftliche» Gründen, ist in England jeder¬
mann ohne Unterschied des Stands, des Berufs und der Partei von der
Überzeugung durchdrungen, daß Handel und Industrie gesicherter Absatzmärkte
bedürfen, und freut sich Jungamerika impulsiv der Weltmachtstellung. Mau
mag vom Standpunkte der Ethik, der Kultur zu dieser Entwicklung stehen,
wie man will, sie loben oder verdammen — man muß sie als eine unwider¬
rufliche Thatsache anerkennen, mit ihr rechnen, aus ihr für das eigne Volk
die Folgerungen ziehen.

Und diese können nur lauten, daß sich Deutschland diesen neuen Problemen
gar nicht entziehen kann, wenn es nicht blind oder leichtfertig seine Zukunft
in die Schanze schlagen will. Das Deutsche Reich ist schon jetzt keine Kon¬
tinentalmacht mehr, sondern mit tausend Fäden in die Weltinteressen ver¬
flochten. Millionen unsrer Landsleute sind ausgewandert, haben den innern
Zusammenhang mit der Heimat verloren und fremde Staatswesen jenseits des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/10>, abgerufen am 15.01.2025.