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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Rousseau? Einfluß auf die französische Revolution

der Lage des Landes, dessen Klima, nach der Zahl, dem Temperament, der
Beschäftigung und Lebensweise der Bewohner, kurz nach den innern und
äußern Verhältnissen. Dem entsprechend wird der Staat entweder demokratisch
regiert, oder er ist Monarchie oder Aristokratie. Die Entscheidung über alle
Angelegenheiten des Staats liegt in der Hand der Volksversammlung. Diese
Versammlungen sollen periodisch an bestimmten Tagen stattfinden, ohne daß
dazu besonders eingeladen wird. An ihnen muß das ganze Volk teilnehmen;
es kann sich nicht durch Abgeordnete vertreten lassen.

Diese Volkssouverünitüt Rousseaus ist zum erstenmale in der großen fran¬
zösischen Revolution verwirklicht worden, nachdem Rousseau, was wir mit
Dank anerkennen müssen, ihr erst die Bedeutung gegeben hat, die ihr gebührt.
Denn wenn heute die Vertreter des Volkes, sei es im Reichstage, sei es in
den einzelnen Landtagen, in Wirklichkeit die Gesetze geben, obgleich die Be¬
schlüsse noch der landesherrlichen Bestätigung bedürfen, so haben wir dies als
Frucht der politischen Theorien Rousseaus anzusehen. Der ganze Konstitutio¬
nalismus, dessen wir uns erfreuen, beruht auf ihnen. Dies ist uns vermittelt
durch die große französische Revolution. In ihr spielte die Volkssouveränität
die größte Rolle. Rousseau hatte unter "Volk" die Gesamtheit aller Bürger
verstanden, aber dieser Begriff verengerte sich in der Revolution nach und
nach immer mehr. Zunächst bezeichneten sich als "Volk" die Vertreter des
dritten Standes, der Bürger, die sich, als Ludwig XVI. 1788 die Stände ein¬
berufen hatte, sofort ohne Rücksicht auf den ersten und zweiten Stand, Adel
und Geistlichkeit, zur konstituierenden Nationalversammlung erklärten. Damit
begann ja die Revolution. Ebenso aber nahmen dann nach einander die Par¬
teien den Namen "Volk" für sich in Anspruch, die gerade an der Spitze der
Bewegung standen: die Girondisten, die Bergpartei, die Jakobiner und schlie߬
lich Robespierre selbst. Dabei wollten sie nicht etwa für Vertreter des Volks,
was ja gegen Rousseau gewesen wäre, sondern für das Volk selbst gelten, und
folgten auch darin getreu ihres Meisters Lehren, daß sie jeden, der nicht ihr
Gesinnungsgenosse war, nicht nur aus dem Lande trieben, wie Rousseau
fordert, sondern sogar in der Regel an der Laterne oder ans der Guillotine
hinmordeten. Ja schließlich kam es sogar soweit, daß sich die einzelnen Sans¬
culotten als das Volk bezeichneten und in dessen Namen jeden, der nicht
an ihren Greuelthaten teilnahm, der sich durch Ansehn, Stellung, Bildung,
ja eines nur durch Kleidung und Anstand von ihnen unterschied, seines Ver¬
mögens beraubten, auf alle erdenkliche Weise mißhandelten und töteten. Die
Beispiele dafür sind zu bekannt, als daß sie wiederholt werden müßten.

Die Sozialdemokratie aber folgt hierin getreulich deu Fußstapfen der von
ihr bewunderten Nevolutioushelden. In den sozialdemokratischen Zeitungen,
Wahlprogrammen, Reden usw. wird beständig im Namen des "Volkes" ge¬
fordert, was die Partei fordert. Deren Führer und Herrscher reden, drohen,


Grenzboten II 18!l9 87
Rousseau? Einfluß auf die französische Revolution

der Lage des Landes, dessen Klima, nach der Zahl, dem Temperament, der
Beschäftigung und Lebensweise der Bewohner, kurz nach den innern und
äußern Verhältnissen. Dem entsprechend wird der Staat entweder demokratisch
regiert, oder er ist Monarchie oder Aristokratie. Die Entscheidung über alle
Angelegenheiten des Staats liegt in der Hand der Volksversammlung. Diese
Versammlungen sollen periodisch an bestimmten Tagen stattfinden, ohne daß
dazu besonders eingeladen wird. An ihnen muß das ganze Volk teilnehmen;
es kann sich nicht durch Abgeordnete vertreten lassen.

Diese Volkssouverünitüt Rousseaus ist zum erstenmale in der großen fran¬
zösischen Revolution verwirklicht worden, nachdem Rousseau, was wir mit
Dank anerkennen müssen, ihr erst die Bedeutung gegeben hat, die ihr gebührt.
Denn wenn heute die Vertreter des Volkes, sei es im Reichstage, sei es in
den einzelnen Landtagen, in Wirklichkeit die Gesetze geben, obgleich die Be¬
schlüsse noch der landesherrlichen Bestätigung bedürfen, so haben wir dies als
Frucht der politischen Theorien Rousseaus anzusehen. Der ganze Konstitutio¬
nalismus, dessen wir uns erfreuen, beruht auf ihnen. Dies ist uns vermittelt
durch die große französische Revolution. In ihr spielte die Volkssouveränität
die größte Rolle. Rousseau hatte unter „Volk" die Gesamtheit aller Bürger
verstanden, aber dieser Begriff verengerte sich in der Revolution nach und
nach immer mehr. Zunächst bezeichneten sich als „Volk" die Vertreter des
dritten Standes, der Bürger, die sich, als Ludwig XVI. 1788 die Stände ein¬
berufen hatte, sofort ohne Rücksicht auf den ersten und zweiten Stand, Adel
und Geistlichkeit, zur konstituierenden Nationalversammlung erklärten. Damit
begann ja die Revolution. Ebenso aber nahmen dann nach einander die Par¬
teien den Namen „Volk" für sich in Anspruch, die gerade an der Spitze der
Bewegung standen: die Girondisten, die Bergpartei, die Jakobiner und schlie߬
lich Robespierre selbst. Dabei wollten sie nicht etwa für Vertreter des Volks,
was ja gegen Rousseau gewesen wäre, sondern für das Volk selbst gelten, und
folgten auch darin getreu ihres Meisters Lehren, daß sie jeden, der nicht ihr
Gesinnungsgenosse war, nicht nur aus dem Lande trieben, wie Rousseau
fordert, sondern sogar in der Regel an der Laterne oder ans der Guillotine
hinmordeten. Ja schließlich kam es sogar soweit, daß sich die einzelnen Sans¬
culotten als das Volk bezeichneten und in dessen Namen jeden, der nicht
an ihren Greuelthaten teilnahm, der sich durch Ansehn, Stellung, Bildung,
ja eines nur durch Kleidung und Anstand von ihnen unterschied, seines Ver¬
mögens beraubten, auf alle erdenkliche Weise mißhandelten und töteten. Die
Beispiele dafür sind zu bekannt, als daß sie wiederholt werden müßten.

Die Sozialdemokratie aber folgt hierin getreulich deu Fußstapfen der von
ihr bewunderten Nevolutioushelden. In den sozialdemokratischen Zeitungen,
Wahlprogrammen, Reden usw. wird beständig im Namen des „Volkes" ge¬
fordert, was die Partei fordert. Deren Führer und Herrscher reden, drohen,


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[0697] Rousseau? Einfluß auf die französische Revolution der Lage des Landes, dessen Klima, nach der Zahl, dem Temperament, der Beschäftigung und Lebensweise der Bewohner, kurz nach den innern und äußern Verhältnissen. Dem entsprechend wird der Staat entweder demokratisch regiert, oder er ist Monarchie oder Aristokratie. Die Entscheidung über alle Angelegenheiten des Staats liegt in der Hand der Volksversammlung. Diese Versammlungen sollen periodisch an bestimmten Tagen stattfinden, ohne daß dazu besonders eingeladen wird. An ihnen muß das ganze Volk teilnehmen; es kann sich nicht durch Abgeordnete vertreten lassen. Diese Volkssouverünitüt Rousseaus ist zum erstenmale in der großen fran¬ zösischen Revolution verwirklicht worden, nachdem Rousseau, was wir mit Dank anerkennen müssen, ihr erst die Bedeutung gegeben hat, die ihr gebührt. Denn wenn heute die Vertreter des Volkes, sei es im Reichstage, sei es in den einzelnen Landtagen, in Wirklichkeit die Gesetze geben, obgleich die Be¬ schlüsse noch der landesherrlichen Bestätigung bedürfen, so haben wir dies als Frucht der politischen Theorien Rousseaus anzusehen. Der ganze Konstitutio¬ nalismus, dessen wir uns erfreuen, beruht auf ihnen. Dies ist uns vermittelt durch die große französische Revolution. In ihr spielte die Volkssouveränität die größte Rolle. Rousseau hatte unter „Volk" die Gesamtheit aller Bürger verstanden, aber dieser Begriff verengerte sich in der Revolution nach und nach immer mehr. Zunächst bezeichneten sich als „Volk" die Vertreter des dritten Standes, der Bürger, die sich, als Ludwig XVI. 1788 die Stände ein¬ berufen hatte, sofort ohne Rücksicht auf den ersten und zweiten Stand, Adel und Geistlichkeit, zur konstituierenden Nationalversammlung erklärten. Damit begann ja die Revolution. Ebenso aber nahmen dann nach einander die Par¬ teien den Namen „Volk" für sich in Anspruch, die gerade an der Spitze der Bewegung standen: die Girondisten, die Bergpartei, die Jakobiner und schlie߬ lich Robespierre selbst. Dabei wollten sie nicht etwa für Vertreter des Volks, was ja gegen Rousseau gewesen wäre, sondern für das Volk selbst gelten, und folgten auch darin getreu ihres Meisters Lehren, daß sie jeden, der nicht ihr Gesinnungsgenosse war, nicht nur aus dem Lande trieben, wie Rousseau fordert, sondern sogar in der Regel an der Laterne oder ans der Guillotine hinmordeten. Ja schließlich kam es sogar soweit, daß sich die einzelnen Sans¬ culotten als das Volk bezeichneten und in dessen Namen jeden, der nicht an ihren Greuelthaten teilnahm, der sich durch Ansehn, Stellung, Bildung, ja eines nur durch Kleidung und Anstand von ihnen unterschied, seines Ver¬ mögens beraubten, auf alle erdenkliche Weise mißhandelten und töteten. Die Beispiele dafür sind zu bekannt, als daß sie wiederholt werden müßten. Die Sozialdemokratie aber folgt hierin getreulich deu Fußstapfen der von ihr bewunderten Nevolutioushelden. In den sozialdemokratischen Zeitungen, Wahlprogrammen, Reden usw. wird beständig im Namen des „Volkes" ge¬ fordert, was die Partei fordert. Deren Führer und Herrscher reden, drohen, Grenzboten II 18!l9 87

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/697>, abgerufen am 28.09.2024.