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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Rinder vor Gericht

Wenn man erwägt, daß nach K 57 des Reichsstrafgesetzbuchs das Gericht
selbst bei sonst todeswürdigen Verbrechen bei "Jugendlichen" nur auf Gefängnis
(nicht auf Zuchthaus) von drei bis höchstens fünfzehn Jahren erkennen kann
und in allen andern Fällen einen so außerordentlich weiten Spielraum hat,
der schließlich bei allen Vergehen (und Übertretungen, nur nicht bei Verbrechen)
auf einen bloßen Verweis hinuntergehen kann, so wird man schwer einsehen
können, daß es wünschenswert sein sollte, den Kreis der so zu behandelnden
jungen Übelthäter noch um alle im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren zu
verringern. Es läßt sich jedenfalls auch nicht als Regel behaupten, daß in
diesem Alter bei uns noch keine volle Erkenntnis der Strafbarkeit bei ver-
botnen Handlungen anzutreffen sei. Übrigens liegt auch der psychologische
Grund dafür, daß die subjektive Schuldfrage bei Kindern besonders berücksichtigt
werden muß, weniger in einem Mangel an Einsicht bei den Kindern, als in
der geringern Widerstandsfähigkeit ihres Willens gegen die Beeinflussung durch
andre. Hierfür sei ein besonders auffallendes Beispiel angeführt: In einer
Stadt Niederschlesiens wurden einige Tage nach einander abends in der Däm¬
merung mehreren Personen auf der Straße Kleidungsstücke durch Begießen
mit Schwefelsäure verdorben; als Thäterin wurde zufällig dadurch, daß ein
Tropfen der Flüssigkeit die Hand der Begleiterin einer Geschädigten traf, ein
ganz unbescholtnes etwa fünfzehn Jahre altes Mädchen aus ordentlicher Familie
ermittelt. Es stellte sich dann heraus, daß sie die Schwefelsäure von einer
ältern Freundin erhalten hatte, die in einer Apotheke als "kohlensaure Jung¬
frau" angestellt war und sich dort die Flasche heimlich angeeignet hatte. Sie
hatte sie ihrer Freundin zu dem Zwecke gegeben, damit einer Bekannten, auf
die die "Kohlensaure" von der Schule her "einen Haß" hatte, ihren neuen
UmHang zu verderben. Die Fünfzehnjährige hatte diesen Auftrag angenommen
und die übrigen Versuche damit nur gemacht anfangs, um sich ans die eigent¬
liche Aufgabe einzuüben, und später, weil ihr die Sache Spaß gemacht hatte.
Sie erhielt sieben, die Anstiftern! nenn Monate Gefängnis.

Die leichte Bestimmbarkeit des Willens würde noch gefördert werden,
wenn den Kindern unter vierzehn Jahren von solchen gewissenlosen Anstiftern
noch dargethciu werden könnte, daß das Gesetz selbst sie ganz unbestraft lasse.
Kann doch selbst schon eine verminderte Strafzumessung eine Rolle bei ähn¬
lichen Anstiftungen spielen. So haben wir in einem bekannten Mordprozesfe
in einer großen rheinischen Stadt gesehen, daß die Verwandten des zu lebens¬
länglicher Zuchthausstrafe "begnadigten" Mörders einen jungen Menschen zu
überreden wußten, sich als Mörder anzugeben, indem sie ihm nachwiesen, daß
er ja nur zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt werden könne. Das
Gesuch um die Wiederaufnahme des Verfahrens wurde aber abgelehnt, weil
mau diese Selbstanzeige richtig beurteilte.

Auch der Mißbrauch der Autorität durch Vorgesetzte ist bei der Beurtei¬
lung von Strafthaten "Jugendlicher" wohl zu erwägen. So ist es z. B. ein


Rinder vor Gericht

Wenn man erwägt, daß nach K 57 des Reichsstrafgesetzbuchs das Gericht
selbst bei sonst todeswürdigen Verbrechen bei „Jugendlichen" nur auf Gefängnis
(nicht auf Zuchthaus) von drei bis höchstens fünfzehn Jahren erkennen kann
und in allen andern Fällen einen so außerordentlich weiten Spielraum hat,
der schließlich bei allen Vergehen (und Übertretungen, nur nicht bei Verbrechen)
auf einen bloßen Verweis hinuntergehen kann, so wird man schwer einsehen
können, daß es wünschenswert sein sollte, den Kreis der so zu behandelnden
jungen Übelthäter noch um alle im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren zu
verringern. Es läßt sich jedenfalls auch nicht als Regel behaupten, daß in
diesem Alter bei uns noch keine volle Erkenntnis der Strafbarkeit bei ver-
botnen Handlungen anzutreffen sei. Übrigens liegt auch der psychologische
Grund dafür, daß die subjektive Schuldfrage bei Kindern besonders berücksichtigt
werden muß, weniger in einem Mangel an Einsicht bei den Kindern, als in
der geringern Widerstandsfähigkeit ihres Willens gegen die Beeinflussung durch
andre. Hierfür sei ein besonders auffallendes Beispiel angeführt: In einer
Stadt Niederschlesiens wurden einige Tage nach einander abends in der Däm¬
merung mehreren Personen auf der Straße Kleidungsstücke durch Begießen
mit Schwefelsäure verdorben; als Thäterin wurde zufällig dadurch, daß ein
Tropfen der Flüssigkeit die Hand der Begleiterin einer Geschädigten traf, ein
ganz unbescholtnes etwa fünfzehn Jahre altes Mädchen aus ordentlicher Familie
ermittelt. Es stellte sich dann heraus, daß sie die Schwefelsäure von einer
ältern Freundin erhalten hatte, die in einer Apotheke als „kohlensaure Jung¬
frau" angestellt war und sich dort die Flasche heimlich angeeignet hatte. Sie
hatte sie ihrer Freundin zu dem Zwecke gegeben, damit einer Bekannten, auf
die die „Kohlensaure" von der Schule her „einen Haß" hatte, ihren neuen
UmHang zu verderben. Die Fünfzehnjährige hatte diesen Auftrag angenommen
und die übrigen Versuche damit nur gemacht anfangs, um sich ans die eigent¬
liche Aufgabe einzuüben, und später, weil ihr die Sache Spaß gemacht hatte.
Sie erhielt sieben, die Anstiftern! nenn Monate Gefängnis.

Die leichte Bestimmbarkeit des Willens würde noch gefördert werden,
wenn den Kindern unter vierzehn Jahren von solchen gewissenlosen Anstiftern
noch dargethciu werden könnte, daß das Gesetz selbst sie ganz unbestraft lasse.
Kann doch selbst schon eine verminderte Strafzumessung eine Rolle bei ähn¬
lichen Anstiftungen spielen. So haben wir in einem bekannten Mordprozesfe
in einer großen rheinischen Stadt gesehen, daß die Verwandten des zu lebens¬
länglicher Zuchthausstrafe „begnadigten" Mörders einen jungen Menschen zu
überreden wußten, sich als Mörder anzugeben, indem sie ihm nachwiesen, daß
er ja nur zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt werden könne. Das
Gesuch um die Wiederaufnahme des Verfahrens wurde aber abgelehnt, weil
mau diese Selbstanzeige richtig beurteilte.

Auch der Mißbrauch der Autorität durch Vorgesetzte ist bei der Beurtei¬
lung von Strafthaten „Jugendlicher" wohl zu erwägen. So ist es z. B. ein


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[0693] Rinder vor Gericht Wenn man erwägt, daß nach K 57 des Reichsstrafgesetzbuchs das Gericht selbst bei sonst todeswürdigen Verbrechen bei „Jugendlichen" nur auf Gefängnis (nicht auf Zuchthaus) von drei bis höchstens fünfzehn Jahren erkennen kann und in allen andern Fällen einen so außerordentlich weiten Spielraum hat, der schließlich bei allen Vergehen (und Übertretungen, nur nicht bei Verbrechen) auf einen bloßen Verweis hinuntergehen kann, so wird man schwer einsehen können, daß es wünschenswert sein sollte, den Kreis der so zu behandelnden jungen Übelthäter noch um alle im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren zu verringern. Es läßt sich jedenfalls auch nicht als Regel behaupten, daß in diesem Alter bei uns noch keine volle Erkenntnis der Strafbarkeit bei ver- botnen Handlungen anzutreffen sei. Übrigens liegt auch der psychologische Grund dafür, daß die subjektive Schuldfrage bei Kindern besonders berücksichtigt werden muß, weniger in einem Mangel an Einsicht bei den Kindern, als in der geringern Widerstandsfähigkeit ihres Willens gegen die Beeinflussung durch andre. Hierfür sei ein besonders auffallendes Beispiel angeführt: In einer Stadt Niederschlesiens wurden einige Tage nach einander abends in der Däm¬ merung mehreren Personen auf der Straße Kleidungsstücke durch Begießen mit Schwefelsäure verdorben; als Thäterin wurde zufällig dadurch, daß ein Tropfen der Flüssigkeit die Hand der Begleiterin einer Geschädigten traf, ein ganz unbescholtnes etwa fünfzehn Jahre altes Mädchen aus ordentlicher Familie ermittelt. Es stellte sich dann heraus, daß sie die Schwefelsäure von einer ältern Freundin erhalten hatte, die in einer Apotheke als „kohlensaure Jung¬ frau" angestellt war und sich dort die Flasche heimlich angeeignet hatte. Sie hatte sie ihrer Freundin zu dem Zwecke gegeben, damit einer Bekannten, auf die die „Kohlensaure" von der Schule her „einen Haß" hatte, ihren neuen UmHang zu verderben. Die Fünfzehnjährige hatte diesen Auftrag angenommen und die übrigen Versuche damit nur gemacht anfangs, um sich ans die eigent¬ liche Aufgabe einzuüben, und später, weil ihr die Sache Spaß gemacht hatte. Sie erhielt sieben, die Anstiftern! nenn Monate Gefängnis. Die leichte Bestimmbarkeit des Willens würde noch gefördert werden, wenn den Kindern unter vierzehn Jahren von solchen gewissenlosen Anstiftern noch dargethciu werden könnte, daß das Gesetz selbst sie ganz unbestraft lasse. Kann doch selbst schon eine verminderte Strafzumessung eine Rolle bei ähn¬ lichen Anstiftungen spielen. So haben wir in einem bekannten Mordprozesfe in einer großen rheinischen Stadt gesehen, daß die Verwandten des zu lebens¬ länglicher Zuchthausstrafe „begnadigten" Mörders einen jungen Menschen zu überreden wußten, sich als Mörder anzugeben, indem sie ihm nachwiesen, daß er ja nur zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt werden könne. Das Gesuch um die Wiederaufnahme des Verfahrens wurde aber abgelehnt, weil mau diese Selbstanzeige richtig beurteilte. Auch der Mißbrauch der Autorität durch Vorgesetzte ist bei der Beurtei¬ lung von Strafthaten „Jugendlicher" wohl zu erwägen. So ist es z. B. ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/693>, abgerufen am 28.09.2024.