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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Kinder vor Gericht

So wird durch diese Gesetze dafür gesorgt, daß es den vorhandnen Besse-
rungs- und Nettungsanstalten nicht an Zöglingen fehle. Und in der That
dürfte auch in ihnen ein geeigneterer Ort für junge Übelthäter zu sehen sein,
als das dem Hauptzweck der Strafe und nicht dem der Erziehung unterzu¬
ordnende staatliche Gefängnis! Wenn auch der Anfangstermin der Zulässigkeit
dieses, nicht durch den Straf-, sondern den Vormundschaftsrichter zu führenden
Verfahrens wie jetzt in Preußen das vollendete sechste Lebensjahr bliebe, so
müßte doch ihr Endtermin bis zum achtzehnten oder zwanzigsten Jahre hinaus¬
gerückt werden.

Die eine Bestrebung will nun den Anfangspunkt der strafrechtlichen Ver¬
antwortlichkeit überhaupt nach unten hin später ansetzen, also verkürzen; die
andre den Endtermin der noch nicht vollen Strafmündigkeit weiter nach oben
hin, vom achtzehnten auf das einundzwanzigste Lebensjahr hinaufrücken.
Gerade diese letzte Richtung, die wir die radikalere nannten, nicht aber die
erste, hat Anerkennung und gesetzliche Wirksamkeit erhalten in dem Strafgesetz-
bnche, das dem Datum nach das jüngste unter den europäischen ist, und das
den wohlbegründeten Anspruch erheben darf, auf der Höhe der neusten For¬
schungen unsrer Wissenschaft zu stehen: dem italienischen vom 30. Juli 1889,
mit Geltung vom 1. Januar 1890.

Man könnte ja von vornherein geneigt sein, anzunehmen, daß bei der
unzweifelhaft im südlichen Klima früher eintretenden Geschlechtsreife die Ter¬
mine allgemein früher angenommen werden müßten, und z. B. der Anfangs¬
termin der Verantwortlichkeit überhaupt vom zwölften Jahre etwa schon unserm
deutschen vom vierzehnten Jahre entsprechen würde. Aber dieser Anfangs¬
termin ist in Italien verhältnismäßig viel niedriger: die strafrechtliche Verant¬
wortung beginnt dort schon mit dem zurückgelegten neunten Lebensjahre
(Art. 54). Dazu kommt nun aber eine noch viel weiter gehende Bestimmung
des Artikels 53 des italienischen Strafgesetzbnchs, die allerdings nur unter der
Berücksichtigung dessen richtig verstanden werden kann, was wir vorhin über
unsre staatliche Zwangserziehung gesagt haben. Denn sonst könnte man ihn
dahin verstehen, daß das neue italienische Strafrecht wenigstens für einige be¬
stimmte Kategorien von Strafthaten eine Grenze seiner Anwendbarkeit in dem
Lebensalter der Thäter nach unten hin überhaupt nicht finde.

Im Artikel 53 ist zwar gesagt, daß ein gerichtliches Verfahren nicht statt¬
finde (non si prooeäs) gegen den Ubelthäter, der zur Zeit der That das neunte
Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Im zweiten Absatz heißt es dann aber
weiter ohne jede Beschränkung im Alter, daß ein solcher, wenn er eine That
begangen hat, die vom Gesetz mit krA^stolo (die auch die Stelle der Todesstrafe
vertretende immer lebenslängliche Zwangsarbeit), Zuchthaus oder Gefängnis
nicht unter einem Jahre bedroht ist, auf den Antrag der Staatsanwaltschaft
von dem Vorsitzenden des Zivilgerichts einer Erziehungs- oder Besserungs-


Kinder vor Gericht

So wird durch diese Gesetze dafür gesorgt, daß es den vorhandnen Besse-
rungs- und Nettungsanstalten nicht an Zöglingen fehle. Und in der That
dürfte auch in ihnen ein geeigneterer Ort für junge Übelthäter zu sehen sein,
als das dem Hauptzweck der Strafe und nicht dem der Erziehung unterzu¬
ordnende staatliche Gefängnis! Wenn auch der Anfangstermin der Zulässigkeit
dieses, nicht durch den Straf-, sondern den Vormundschaftsrichter zu führenden
Verfahrens wie jetzt in Preußen das vollendete sechste Lebensjahr bliebe, so
müßte doch ihr Endtermin bis zum achtzehnten oder zwanzigsten Jahre hinaus¬
gerückt werden.

Die eine Bestrebung will nun den Anfangspunkt der strafrechtlichen Ver¬
antwortlichkeit überhaupt nach unten hin später ansetzen, also verkürzen; die
andre den Endtermin der noch nicht vollen Strafmündigkeit weiter nach oben
hin, vom achtzehnten auf das einundzwanzigste Lebensjahr hinaufrücken.
Gerade diese letzte Richtung, die wir die radikalere nannten, nicht aber die
erste, hat Anerkennung und gesetzliche Wirksamkeit erhalten in dem Strafgesetz-
bnche, das dem Datum nach das jüngste unter den europäischen ist, und das
den wohlbegründeten Anspruch erheben darf, auf der Höhe der neusten For¬
schungen unsrer Wissenschaft zu stehen: dem italienischen vom 30. Juli 1889,
mit Geltung vom 1. Januar 1890.

Man könnte ja von vornherein geneigt sein, anzunehmen, daß bei der
unzweifelhaft im südlichen Klima früher eintretenden Geschlechtsreife die Ter¬
mine allgemein früher angenommen werden müßten, und z. B. der Anfangs¬
termin der Verantwortlichkeit überhaupt vom zwölften Jahre etwa schon unserm
deutschen vom vierzehnten Jahre entsprechen würde. Aber dieser Anfangs¬
termin ist in Italien verhältnismäßig viel niedriger: die strafrechtliche Verant¬
wortung beginnt dort schon mit dem zurückgelegten neunten Lebensjahre
(Art. 54). Dazu kommt nun aber eine noch viel weiter gehende Bestimmung
des Artikels 53 des italienischen Strafgesetzbnchs, die allerdings nur unter der
Berücksichtigung dessen richtig verstanden werden kann, was wir vorhin über
unsre staatliche Zwangserziehung gesagt haben. Denn sonst könnte man ihn
dahin verstehen, daß das neue italienische Strafrecht wenigstens für einige be¬
stimmte Kategorien von Strafthaten eine Grenze seiner Anwendbarkeit in dem
Lebensalter der Thäter nach unten hin überhaupt nicht finde.

Im Artikel 53 ist zwar gesagt, daß ein gerichtliches Verfahren nicht statt¬
finde (non si prooeäs) gegen den Ubelthäter, der zur Zeit der That das neunte
Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Im zweiten Absatz heißt es dann aber
weiter ohne jede Beschränkung im Alter, daß ein solcher, wenn er eine That
begangen hat, die vom Gesetz mit krA^stolo (die auch die Stelle der Todesstrafe
vertretende immer lebenslängliche Zwangsarbeit), Zuchthaus oder Gefängnis
nicht unter einem Jahre bedroht ist, auf den Antrag der Staatsanwaltschaft
von dem Vorsitzenden des Zivilgerichts einer Erziehungs- oder Besserungs-


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[0690] Kinder vor Gericht So wird durch diese Gesetze dafür gesorgt, daß es den vorhandnen Besse- rungs- und Nettungsanstalten nicht an Zöglingen fehle. Und in der That dürfte auch in ihnen ein geeigneterer Ort für junge Übelthäter zu sehen sein, als das dem Hauptzweck der Strafe und nicht dem der Erziehung unterzu¬ ordnende staatliche Gefängnis! Wenn auch der Anfangstermin der Zulässigkeit dieses, nicht durch den Straf-, sondern den Vormundschaftsrichter zu führenden Verfahrens wie jetzt in Preußen das vollendete sechste Lebensjahr bliebe, so müßte doch ihr Endtermin bis zum achtzehnten oder zwanzigsten Jahre hinaus¬ gerückt werden. Die eine Bestrebung will nun den Anfangspunkt der strafrechtlichen Ver¬ antwortlichkeit überhaupt nach unten hin später ansetzen, also verkürzen; die andre den Endtermin der noch nicht vollen Strafmündigkeit weiter nach oben hin, vom achtzehnten auf das einundzwanzigste Lebensjahr hinaufrücken. Gerade diese letzte Richtung, die wir die radikalere nannten, nicht aber die erste, hat Anerkennung und gesetzliche Wirksamkeit erhalten in dem Strafgesetz- bnche, das dem Datum nach das jüngste unter den europäischen ist, und das den wohlbegründeten Anspruch erheben darf, auf der Höhe der neusten For¬ schungen unsrer Wissenschaft zu stehen: dem italienischen vom 30. Juli 1889, mit Geltung vom 1. Januar 1890. Man könnte ja von vornherein geneigt sein, anzunehmen, daß bei der unzweifelhaft im südlichen Klima früher eintretenden Geschlechtsreife die Ter¬ mine allgemein früher angenommen werden müßten, und z. B. der Anfangs¬ termin der Verantwortlichkeit überhaupt vom zwölften Jahre etwa schon unserm deutschen vom vierzehnten Jahre entsprechen würde. Aber dieser Anfangs¬ termin ist in Italien verhältnismäßig viel niedriger: die strafrechtliche Verant¬ wortung beginnt dort schon mit dem zurückgelegten neunten Lebensjahre (Art. 54). Dazu kommt nun aber eine noch viel weiter gehende Bestimmung des Artikels 53 des italienischen Strafgesetzbnchs, die allerdings nur unter der Berücksichtigung dessen richtig verstanden werden kann, was wir vorhin über unsre staatliche Zwangserziehung gesagt haben. Denn sonst könnte man ihn dahin verstehen, daß das neue italienische Strafrecht wenigstens für einige be¬ stimmte Kategorien von Strafthaten eine Grenze seiner Anwendbarkeit in dem Lebensalter der Thäter nach unten hin überhaupt nicht finde. Im Artikel 53 ist zwar gesagt, daß ein gerichtliches Verfahren nicht statt¬ finde (non si prooeäs) gegen den Ubelthäter, der zur Zeit der That das neunte Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Im zweiten Absatz heißt es dann aber weiter ohne jede Beschränkung im Alter, daß ein solcher, wenn er eine That begangen hat, die vom Gesetz mit krA^stolo (die auch die Stelle der Todesstrafe vertretende immer lebenslängliche Zwangsarbeit), Zuchthaus oder Gefängnis nicht unter einem Jahre bedroht ist, auf den Antrag der Staatsanwaltschaft von dem Vorsitzenden des Zivilgerichts einer Erziehungs- oder Besserungs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/690>, abgerufen am 28.09.2024.