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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Franz Stücks Malereien für das deutsche Reichstagsgebäude

Rankengewinde aus Blattwerk mit Früchten in schematischen Verschlingungen
über die ganze Fläche hin. Es ist in gelblich-grauer Steinfarbe gemalt, die
hie und da durch Grün, Rot und Gold in ihrer Eintönigkeit etwas belebt
wird. Diese Ornamentik bildet den Untergrund sür zwei Reihen von Wappen¬
schilder deutscher Städte über einander, die, damit wieder sür einige Ab¬
wechslung gesorgt ist, in der obern Reihe schräg gestellt sind, in der untern
aufrecht stehn. Zwischen diesen untern Wappenschildern tummeln sich sechs
Gestalten in Renaissancetracht, die einer ihnen auf einer Kugel vorauf¬
schwebenden nackten weiblichen Gestalt, der Glücksgöttin -- je nach Kraft und
Beinvermögen -- nachstreben. Nur in diesen sieben Figuren zeigt sich der
eigentliche Stuck. Den ornamentalen Hintergrund und das Wappenwerk Hütte
jeder Dekorationsmaler, der den Unterricht in einer kunstgewerblichen Lehr¬
anstalt mit einigem Nutzen genossen hat, eben so gut wie Stuck machen
können. Es ist auch wahrscheinlich, daß er die Figuren besser als Stuck ge¬
zeichnet hätte. Aber Wallot wollte den berühmten Namen in seinem Werke
nicht missen, und so mußte er zu seinem Schaden lernen, daß auf die Be¬
rühmtheiten der modernen Kunst "kein rechter Verlaß" ist. Die nackte Figur
der Glücksgöttin ist nur erträglich, wenn man annimmt, daß der Maler, ohne
Rücksicht auf wirkliche menschliche Körperform, damit seinem Rankengewinde
einen ornamentalen Schnörkel in Form einer "stilisierten" Menschenfigur habe
hinzufügen wollen. Das Wort "stilisiert" ist ja in der modernen Kunst das
Palladium, hinter dem sich alle Sünder verkriechen, die weder zeichnen noch
malen gelernt haben, aber doch aus dem Vollen schöpfen wollen. Dafür
offenbart sich der echte Stuck in dem Gesicht dieser "leichten Dirne," das sie
mit widerlichem, bei Stuck schon zur steinernen Maske gewordnen Grinsen
ihren Verfolgern zuwendet: einem auf Krücken humpelndem Greise, einer mit
dem Stäbe vor sich hertastenden Alten, einem mit eingelegter Lanze heran¬
stürmenden Ritter, dem ein Narr hohnlachend seine Pritsche zeigt, ein Fräulein
in Patriziertracht und ein Jüngling, der weniger der Glücksgöttin als dem
Fräulein nachzueilen scheint, das seinerseits wieder mehr Interesse für den
Ritter hat. Die Bewundrer Stücks sehen in diesem gesuchten Archaismus eine
Erneuerung des naiven Geistes der deutschen Frührenaissance, die, wie alles
Neue, von gewisser Seite, die mit Eifer an der Schaffung neuer Werte arbeitet,
mit der üblichen Freude und geschäftigen Begeisterung begrüßt wird, während
viele andre diese Figuren für höchst einfältig halten.

Bei der Mehrzahl der Reichstagsmitglieder scheint aber, wenn man von
Dr. Lieber und den Seinigen absieht, die hauptsächlich durch einige nackte
Figuren auf der andern Hälfte des Gemäldes in ihren sittlichen Gefühlen ver¬
letzt worden sind, nicht die Malerei Stücks, sondern das öde Wappenwerk
Wallots den Ausschlag gegeben zu haben. Wir sehen darin eine berechtigte
Reaktion des gesunden Menschenverstands und des modernen Geistes, wie wir


Franz Stücks Malereien für das deutsche Reichstagsgebäude

Rankengewinde aus Blattwerk mit Früchten in schematischen Verschlingungen
über die ganze Fläche hin. Es ist in gelblich-grauer Steinfarbe gemalt, die
hie und da durch Grün, Rot und Gold in ihrer Eintönigkeit etwas belebt
wird. Diese Ornamentik bildet den Untergrund sür zwei Reihen von Wappen¬
schilder deutscher Städte über einander, die, damit wieder sür einige Ab¬
wechslung gesorgt ist, in der obern Reihe schräg gestellt sind, in der untern
aufrecht stehn. Zwischen diesen untern Wappenschildern tummeln sich sechs
Gestalten in Renaissancetracht, die einer ihnen auf einer Kugel vorauf¬
schwebenden nackten weiblichen Gestalt, der Glücksgöttin — je nach Kraft und
Beinvermögen — nachstreben. Nur in diesen sieben Figuren zeigt sich der
eigentliche Stuck. Den ornamentalen Hintergrund und das Wappenwerk Hütte
jeder Dekorationsmaler, der den Unterricht in einer kunstgewerblichen Lehr¬
anstalt mit einigem Nutzen genossen hat, eben so gut wie Stuck machen
können. Es ist auch wahrscheinlich, daß er die Figuren besser als Stuck ge¬
zeichnet hätte. Aber Wallot wollte den berühmten Namen in seinem Werke
nicht missen, und so mußte er zu seinem Schaden lernen, daß auf die Be¬
rühmtheiten der modernen Kunst „kein rechter Verlaß" ist. Die nackte Figur
der Glücksgöttin ist nur erträglich, wenn man annimmt, daß der Maler, ohne
Rücksicht auf wirkliche menschliche Körperform, damit seinem Rankengewinde
einen ornamentalen Schnörkel in Form einer „stilisierten" Menschenfigur habe
hinzufügen wollen. Das Wort „stilisiert" ist ja in der modernen Kunst das
Palladium, hinter dem sich alle Sünder verkriechen, die weder zeichnen noch
malen gelernt haben, aber doch aus dem Vollen schöpfen wollen. Dafür
offenbart sich der echte Stuck in dem Gesicht dieser „leichten Dirne," das sie
mit widerlichem, bei Stuck schon zur steinernen Maske gewordnen Grinsen
ihren Verfolgern zuwendet: einem auf Krücken humpelndem Greise, einer mit
dem Stäbe vor sich hertastenden Alten, einem mit eingelegter Lanze heran¬
stürmenden Ritter, dem ein Narr hohnlachend seine Pritsche zeigt, ein Fräulein
in Patriziertracht und ein Jüngling, der weniger der Glücksgöttin als dem
Fräulein nachzueilen scheint, das seinerseits wieder mehr Interesse für den
Ritter hat. Die Bewundrer Stücks sehen in diesem gesuchten Archaismus eine
Erneuerung des naiven Geistes der deutschen Frührenaissance, die, wie alles
Neue, von gewisser Seite, die mit Eifer an der Schaffung neuer Werte arbeitet,
mit der üblichen Freude und geschäftigen Begeisterung begrüßt wird, während
viele andre diese Figuren für höchst einfältig halten.

Bei der Mehrzahl der Reichstagsmitglieder scheint aber, wenn man von
Dr. Lieber und den Seinigen absieht, die hauptsächlich durch einige nackte
Figuren auf der andern Hälfte des Gemäldes in ihren sittlichen Gefühlen ver¬
letzt worden sind, nicht die Malerei Stücks, sondern das öde Wappenwerk
Wallots den Ausschlag gegeben zu haben. Wir sehen darin eine berechtigte
Reaktion des gesunden Menschenverstands und des modernen Geistes, wie wir


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[0656] Franz Stücks Malereien für das deutsche Reichstagsgebäude Rankengewinde aus Blattwerk mit Früchten in schematischen Verschlingungen über die ganze Fläche hin. Es ist in gelblich-grauer Steinfarbe gemalt, die hie und da durch Grün, Rot und Gold in ihrer Eintönigkeit etwas belebt wird. Diese Ornamentik bildet den Untergrund sür zwei Reihen von Wappen¬ schilder deutscher Städte über einander, die, damit wieder sür einige Ab¬ wechslung gesorgt ist, in der obern Reihe schräg gestellt sind, in der untern aufrecht stehn. Zwischen diesen untern Wappenschildern tummeln sich sechs Gestalten in Renaissancetracht, die einer ihnen auf einer Kugel vorauf¬ schwebenden nackten weiblichen Gestalt, der Glücksgöttin — je nach Kraft und Beinvermögen — nachstreben. Nur in diesen sieben Figuren zeigt sich der eigentliche Stuck. Den ornamentalen Hintergrund und das Wappenwerk Hütte jeder Dekorationsmaler, der den Unterricht in einer kunstgewerblichen Lehr¬ anstalt mit einigem Nutzen genossen hat, eben so gut wie Stuck machen können. Es ist auch wahrscheinlich, daß er die Figuren besser als Stuck ge¬ zeichnet hätte. Aber Wallot wollte den berühmten Namen in seinem Werke nicht missen, und so mußte er zu seinem Schaden lernen, daß auf die Be¬ rühmtheiten der modernen Kunst „kein rechter Verlaß" ist. Die nackte Figur der Glücksgöttin ist nur erträglich, wenn man annimmt, daß der Maler, ohne Rücksicht auf wirkliche menschliche Körperform, damit seinem Rankengewinde einen ornamentalen Schnörkel in Form einer „stilisierten" Menschenfigur habe hinzufügen wollen. Das Wort „stilisiert" ist ja in der modernen Kunst das Palladium, hinter dem sich alle Sünder verkriechen, die weder zeichnen noch malen gelernt haben, aber doch aus dem Vollen schöpfen wollen. Dafür offenbart sich der echte Stuck in dem Gesicht dieser „leichten Dirne," das sie mit widerlichem, bei Stuck schon zur steinernen Maske gewordnen Grinsen ihren Verfolgern zuwendet: einem auf Krücken humpelndem Greise, einer mit dem Stäbe vor sich hertastenden Alten, einem mit eingelegter Lanze heran¬ stürmenden Ritter, dem ein Narr hohnlachend seine Pritsche zeigt, ein Fräulein in Patriziertracht und ein Jüngling, der weniger der Glücksgöttin als dem Fräulein nachzueilen scheint, das seinerseits wieder mehr Interesse für den Ritter hat. Die Bewundrer Stücks sehen in diesem gesuchten Archaismus eine Erneuerung des naiven Geistes der deutschen Frührenaissance, die, wie alles Neue, von gewisser Seite, die mit Eifer an der Schaffung neuer Werte arbeitet, mit der üblichen Freude und geschäftigen Begeisterung begrüßt wird, während viele andre diese Figuren für höchst einfältig halten. Bei der Mehrzahl der Reichstagsmitglieder scheint aber, wenn man von Dr. Lieber und den Seinigen absieht, die hauptsächlich durch einige nackte Figuren auf der andern Hälfte des Gemäldes in ihren sittlichen Gefühlen ver¬ letzt worden sind, nicht die Malerei Stücks, sondern das öde Wappenwerk Wallots den Ausschlag gegeben zu haben. Wir sehen darin eine berechtigte Reaktion des gesunden Menschenverstands und des modernen Geistes, wie wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/656>, abgerufen am 28.09.2024.